Analyse zu neuen EU-KandidatenDie Euphorie wird nicht lange halten
Die EU öffnet die Tür für die Ukraine sowie Moldau und düpiert gleichzeitig die Balkanstaaten. Nach dem Jubel könnte auch der Ukraine die Ernüchterung drohen.
Es gibt nichts Schöneres als gute Nachrichten. Die Ukraine mit Moldau im Schlepptau bekommen den Status als Beitrittskandidaten. Die EU öffnet die Tür für ein Land im Krieg, das heldenhaft um seine Existenz kämpft und gegen Wladimir Putin europäische Werte verteidigt. Das ist die Erzählung, die EU-Rats-Präsident Charles Michel am Donnerstag präsentieren wollte. Zwischen Beitrittsantrag, Vorschlag der EU-Kommission und einhelliger Zustimmung am Gipfel der Staats- und Regierungschefs sind nur wenige Wochen vergangen. Die EU kann auch schnell, wenn es darauf ankommt.
Das Adjektiv historisch hatte am Donnerstag in Brüssel wieder einmal Inflation. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz war nicht der Einzige, der von einem «sehr wichtigen, historischen Gipfel» sprach. Die EU als geopolitischer Akteur, der seine Verantwortung in der Nachbarschaft wahrnimmt. So sieht man sich gern im Kreis der Staats- und Regierungschefs. Da kann man sich mal auf die Schulter klopfen. Wenn da nur die «Verwandtschaft» vom Balkan nicht die gute Stimmung getrübt hätte.
Skopje wartet seit 17 Jahren
Am Vormittag des «historischen» Entscheids hatte die EU einen «Balkangipfel» mit den Staats- und Regierungschefs von Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina angesetzt. Das Vorprogramm stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Die EU hat den sechs Balkanländern 2003 erstmals die «europäische Perspektive» in Aussicht gestellt. Tatsächlich Beitrittsverhandlungen eröffnet hat die EU mit Montenegro und mit Serbien, doch sie kommen auch nicht wirklich voran. Nordmazedonien hat den Kandidatenstatus tatsächlich seit siebzehn Jahren, Albanien seit immerhin acht. Kosovo und Bosnien sind seit dem Versprechen der EU nicht wirklich weitergekommen auf dem Weg in den Club.
Selten ist die Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität so offensichtlich. Hier die Euphorie über den «historischen» Entscheid zur Ukraine, dort der Frust auf dem Balkan. Albaniens Ministerpräsident Edi Rama, der serbische Präsident Aleksandar Vucic und Nordmazedoniens Dimitar Kovacevski wollten den Balkangipfel zuerst überhaupt boykottieren. Dann kamen sie doch, dafür stürzte in der Nacht auf Donnerstag die bulgarische Regierung über einen Misstrauensantrag. Damit sank auch die Hoffnung auf gute Nachrichten vom Balkangipfel gegen null.
Bulgariens Veto
EU-Mitglied Bulgarien verhindert nämlich bisher mit einem Veto im Alleingang, dass die EU mit Nordmazedonien endlich Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann. Albanien ist mitgefangen, weil die EU mit beiden Ländern gleichzeitig die Verhandlungen beginnen will. Beim Beitrittsverfahren gilt Einstimmigkeit.
Bulgariens Premier signalisierte diese Woche zwar plötzlich Bereitschaft, das Veto aufzuheben, und verlor dann aber prompt seine Regierungsmehrheit. Regierungschef Kiril Petkow musste mit leeren Händen anreisen. Entsprechend schlecht war die Stimmung beim Balkangipfel. EU-Rats-Präsident Charles Michel sagte kurzfristig einen Medienauftritt ab, angeblich aus Zeitgründen.
«Der Erweiterungsprozess ist kaputt.»
Zeit, ihren Unmut kundzutun, hatten dafür die Staats- und Regierungschefs Albaniens, Serbiens sowie Nordmazedoniens. Im Hauptprogramm des eigentlichen Gipfels waren die Gäste nicht mehr vorgesehen. Der Tag sei historisch, aber im negativen Sinne, sagte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama. Bulgarien sei «eine Schande», aber es gehe nicht nur um Bulgarien.
Tatsächlich hatte zuvor Griechenland jahrelang Gespräche mit Skopje blockiert, bis das Land den Namen von Mazedonien auf Nordmazedonien änderte. Der Erweiterungsprozess sei «kaputt», von der gemeinsamen Vision nicht mehr viel übrig, schimpfte Edi Rama. Stattdessen betätigten sich einzelne EU-Staaten als «Geiselnehmer» und hätten die EU «impotent» gemacht.
Einstimmigkeit abschaffen
Die Erfahrungen der Balkanländer müssten der Ukraine eine Mahnung sein. Aber noch mehr der EU, die das Prinzip der Einstimmigkeit abschaffen und das Verfahren straffen muss. Die Euphorie über die Einladung droht sonst auch in der östlichen Nachbarschaft schnell in Ernüchterung umzuschlagen.
In einem nächsten Schritt wird die EU-Kommission frühestens Ende Jahr prüfen, ob die Ukraine und Moldau die Liste der Bedingungen im Bereich Justiz und Korruptionsbekämpfung abgearbeitet haben. Dann müssten die Staats- und Regierungschefs wieder einstimmig grünes Licht für den Start der eigentlichen Beitrittsverhandlungen geben. Auch bei jedem der 35 Verhandlungskapitel ist Einstimmigkeit nötig, um diese zu öffnen und wieder zu schliessen. Das deutlich kleinere Kroatien als letzter Zuzügler im Club hat zuletzt zehn Jahre gebraucht vom Start bis zum Ziel des Vollbeitritts.
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