Deutschland und die AfDDie schweigende Mehrheit erwacht
Quer durch das Land gehen derzeit Zehntausende auf die Strasse, um gegen die rassistische Politik der Alternative für Deutschland zu demonstrieren. Die Stimmung ist aufgewühlt und aufgekratzt.
Wie aufgewühlt die Zeiten und wie aufgekratzt die Stimmung in Deutschland gerade ist, lässt sich unter anderem daran erkennen, dass verhältnismässig kleine Einschläge erstaunlich grosse Wellen auslösen. So war es bei den Bauern, deren Proteste sich an einer im Ganzen geringfügigen Kürzung ihrer Subventionen entzündeten. So ist es nun bei den Gegnern der Alternative für Deutschland, denen nach einem Bericht über geplante Deportationen auf einmal der Kragen platzt.
Seit einer Woche gehen Tag für Tag landauf, landab Zehntausende Menschen gegen die menschenverachtende Politik der AfD auf die Strasse: von Potsdam über Berlin, Leipzig oder Schwerin, Essen bis Freiburg. Allein in Köln kamen am Dienstag 30’000 Menschen unter Slogans wie «Wir sind die Brandmauer» oder «Nie wieder ist jetzt» zusammen. Heute finden grosse Demonstrationen unter anderem in Hamburg und in Jena statt, am Wochenende in Berlin, München, Hannover, Dortmund, Erfurt und Frankfurt am Main.
Demonstrationen entstehen ziemlich spontan
In vielen Bundesländern stellen sich die Ministerpräsidenten an die Spitze, so etwa die Sozialdemokraten Stephan Weil in Niedersachsen, Peter Tschentscher in Hamburg oder Andreas Bovenschulte in Bremen, in Thüringen der Linke Bodo Ramelow. Auffällig ist, dass die Demonstrationen nicht zentral organisiert werden, sondern viele örtliche Vereine und Bündnisse spontan aktiv geworden sind.
Auslöser der Bewegung war eine Recherche der Medienplattform «Correctiv». Diese hatte letzte Woche berichtet, Ende November hätten in Potsdam AfD-Leute und befreundete Unternehmer mit dem österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner zusammen Ideen zur «Remigration» entwickelt.
AfD reagiert mit üblicher Strategie
Mit dem Euphemismus verfolgen Rassisten den Plan, Millionen von «Ausländern» zu deportieren. Und zwar nicht nur abgelehnte oder aufgenommene Asylbewerber, sondern auch «nicht assimilierte» Deutsche mit Migrationshintergrund – und selbst Menschen, die Einwanderern helfen. Innenministerin Nancy Faeser verurteilte solche Pläne diese Woche als «widerliche Ausgrenzungsfantasien», die der Rechtsstaat nicht hinnehmen werde.
Die AfD reagierte mit der üblichen Doppelstrategie: Man wolle einzig «ausreisepflichtige Einwanderer» abschieben, in striktem Einklang mit dem Gesetz, beschwichtigte die Partei. Deren Chefin Alice Weidel trennte sich von ihrem Vertrauten Roland Hartwig, der an dem Treffen mit Sellner teilgenommen hatte. Gleichzeitig bekräftigten AfD-Spitzenleute, die millionenfache «Remigration von Ausländern» sei kein Geheimplan, sondern ein «Versprechen».
Für viele politisch Interessierte war weder neu, dass AfD-Leute mit Rechtsextremisten kungeln, noch dass sie Pläne für ethnische und politische Säuberungen mehr oder weniger offen erörtern. Erschütternd waren diese Erkenntnisse aber offenkundig für viele andere Bürgerinnen und Bürger.
Viele scheinen erst im Laufe der Berichterstattung begriffen zu haben, dass die menschenverachtende Politik der AfD dereinst «nicht nur Ausländer» treffen könnte, sondern auch Deutsche mit türkischem oder italienischem Namen oder Menschen, die sich für Migrantinnen und Migranten einsetzen – also vielleicht auch sie selbst.
Der Höhenflug der AfD in Umfragen hat zudem grosse Sorgen für die drei im Herbst anstehenden Landtagswahlen im Osten geweckt: In Thüringen etwa, wo die AfD derzeit mit 36 Prozent gemessen wird, ist nicht mehr ausgeschlossen, dass ein ausgewiesener Rechtsextremist wie Björn Höcke Ministerpräsident werden könnte.
Habeck: «Keine Frage der politischen Haltung»
An vielen Demonstrationen wird deswegen nun die Forderung erhoben, die AfD oder wenigstens einige ihre Landesverbände müssten als «verfassungsfeindlich» verboten werden. Fast 1,5 Millionen Deutsche haben in den letzten Tagen zudem eine Petition unterschrieben, die zum Ziel hat, Höcke die Wählbarkeit zu entziehen.
Was Verbote der AfD angeht, sind die anderen Parteien aber nach wie vor äusserst skeptisch. Das sei keine Frage der politischen Haltung, sondern des Rechts, sagte der grüne Vizekanzler Robert Habeck diese Woche. Über ein Verbot entscheide allein das Bundesverfassungsgericht, die Hürden seien zu Recht hoch.
Verbotsdebatte könnte kontraproduktiv sein
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier riet in einem Interview, sich auf das zu konzentrieren, «was unmittelbar in diesem Jahr möglich und notwendig ist: Wir sollten die besseren Antworten geben, wir sollten demokratische Mehrheiten organisieren und diese stärken.»
Auch Fachleute wie der Kommunikationsberater Johannes Hillje warnen: Vor den Wahlen im Osten nur noch über Verbote statt über Politik zu sprechen, dürfte das Gegenteil dessen bewirken, was man anstrebe. Die Debatte sende vorrangig das Signal aus, dass den politischen Gegnern nichts anderes mehr einfalle.
Regierung freut sich über Entlastung
Die Regierungsparteien in Berlin schliessen sich den Protesten gegen die AfD jedenfalls auffallend freudig an. Angesichts unterirdischer Umfragewerte begrüssen es vor allem Sozialdemokraten und Grüne sehr, dass statt der von erbosten Bauern beschimpften Ampelkoalition auf einmal die AfD im Zentrum der Empörung steht.
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Kanzler Olaf Scholz und Aussenministerin Annalena Baerbock nahmen an ihrem Wohnort Potsdam schon am letzten Sonntag an einem Protest teil. Der Sozialdemokrat Scholz lobte diese Woche die Menschen ausdrücklich, die «gegen Rassismus und für die Demokratie» auf die Strasse gingen. Sie machten «Mut». Vizekanzler Habeck sagte dem «Stern», es gehe «den Rechtsautoritären um einen Angriff auf das Wesen der Republik. Sie wollen aus Deutschland einen Staat wie Russland machen.»
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