Papablog: Neid unter ElternDarf ich neidisch sein?
Neid gilt als unfeine Charakterschwäche – zu Unrecht. Denn er könnte auf gesellschaftliche Zusammenhänge hinweisen, die man eigentlich ändern müsste.
Wenn man wie ich seit über 15 Jahren regelmässig zu Familienthemen, Elternschaft und Kindern schreibt, gibt es eigentlich kaum Themen, die über die ganze Zeit hinweg als Tabu Bestand haben. Als ich zum Beispiel 2017 über meine Vasektomie als Teil der gemeinsamen Familienplanung von meiner Lebenskomplizin und mir schrieb, war das ein Riesending. Ich habe anschliessend dazu ernsthaft mehrere Interviews gegeben. Inzwischen ist das glücklicherweise ein bisschen anders. Die Stimmen von Männern dazu mehren sich und das ist auch gut so.
Neid ist unpopulär und unsexy
Ein paar Themen scheinen davon allerdings unberührt zu bleiben und verharren in der Tabuzone. Neid unter Eltern ist nach meinem Verständnis so ein Thema. Denn obwohl von diesem Phänomen mutmasslich alle Eltern (inklusive mir) zumindest zeitweise betroffen zu sein scheinen, spricht man nicht darüber. Neidisch zu sein, gilt als unfein und als Charakterschwäche. Seit Jahrhunderten wird uns weisgemacht, dass Neid immer auch mit dem eigenen Versagen aufgrund von Unzulänglichkeiten zu tun hat. Dass es im religiösen Kontext gar eine Todsünde sei. Neidisch zu sein, ist unpopulär und unsexy. Wer andere beneidet, hat irgendetwas nicht auf die Reihe bekommen. Tatsächlich ist diese Wahrnehmung aber gleich doppelt falsch.
In den Augen neidischer Eltern haben andere Eltern etwas, das sie auch gerne hätten: Schlaf. Urlaub. Sex.
Denn zum einen verwechselt sie Neid mit Missgunst. Wenn Eltern andere Eltern darum beneiden, dass deren Leben so viel entspannter, die Kinder netter und die Urlaube geiler aussehen, dann bedeutet das nicht, dass sie diesen Eltern etwas wegnehmen wollen. «Wir würden auch gerne mal nach Frankreich in den Urlaub fahren/hätten gerne so ein grundzufriedenes Baby wie ihr/könnten gut auf unsere Streitigkeiten verzichten» heisst nicht, dass man den beneideten Eltern einen Flug- oder Bahnstreik, ein Schreikind und mehr Beziehungsstress an den Hals wünscht. Es heisst lediglich, dass man das auch gerne hätte.
Und zum anderen setzt Neid mitnichten voraus, dass man sich nicht genug angestrengt oder irgendwie versagt hätte. Eine meiner besten Freundinnen ist alleinerziehende Mutter. Sie strengt sich definitiv mehr an als ich und sie versagt dabei auch nicht. Aber sie beneidet mich und andere Gemeinsamerziehende. Um unser Geld, unsere geschonten Nerven, um die Zeit, die wir mit den Kindern einfach frei und entspannt verbringen können. Daran ist alles nachvollziehbar und nichts verwerflich.
Missgunst gefährdet schnell das Herz
Wenn es um Neid geht, verwechseln wir absichtsvoll angeblich defizitäre Menschen mit den Dingen, die ihnen fehlen. Denn das würde ja womöglich auf gesellschaftliche Zusammenhänge hinweisen, die man eigentlich mal ändern müsste. Oder darauf, dass man sich eben nicht alles «hart erarbeitet», sondern oft auch einfach nur Glück hat. Neidischen Eltern fehlt etwas. In ihren Augen haben andere Eltern etwas, das sie dringend brauchen und auch gerne hätten: Schlaf. Urlaub. Sex. Liebe. Ein hilfreiches Umfeld. Gute Kinderbetreuung. Ausreichend Platz zum Wohnen und Leben. Gute Kommunikation. Geschwister, die sich nicht die ganze Zeit ankotzen und streiten, sondern sich offensiv mögen und gerne Zeit miteinander verbringen.
Missgunst gefährdet tatsächlich sehr schnell das Herz und den Charakter. Aber Neid ist ein Indikationsgefühl. Es zeigt an, dass man etwas braucht. Wer müde ist, braucht meistens Schlaf. Wer neidisch ist, braucht oftmals eine Verbesserung der Lebenssituation. «Boah, ich bin gerade voll neidisch auf dich» ist also keine Unfreundlichkeit. Deswegen wäre eine gute Erwiderung darauf auch einfach ein schlichtes «Danke. Können wir etwas für dich tun?».
Wie halten Sie es mit dem Neid, liebe Leserinnen und Leser? Sind Sie manchmal auch neidisch auf andere? Diskutieren Sie mit uns in der Kommentarspalte.
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