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Mamablog: Wie wir Familienleben vergleichen
Die Idylle der Anderen

Harmonie pur: Das Familienleben unserer Autorin ist weniger idyllisch, als diese es sich manchmal wünscht.
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Wir waren weit gewandert und endlich in der Hütte angekommen. Auf der Terrasse nippten wir wohlig am Gipfeltrank, als die Kinder einen Streit vom Zaun brachen, der gefühlt das halbe Restaurant zum Erschüttern brachte. Ich weiss nicht mehr, worum es ging. Wahrscheinlich um so was wie, dass sich im Glas des Geschwisters ein halbes Kohlensäurebläschen mehr befand. Auf jeden Fall war es so unangenehm laut, dass nach einer Ermahnung mein Blick – irgendwo angesiedelt zwischen Schnappatmung und Apathie – prüfend über die Befindlichkeit der anderen Gäste schweifte. Und schockartig bei einer Familie, zwei Tische neben uns, erstarrte.

Beinahe verzweifelt von derart viel Perfektion, nahm ich einen grossen Schluck von meinem Weisswein.

Denn diese Familie sass mit ganzen vier Kindern am Tisch und spielte Uno in einer Art, die jedes Meditationsseminar als hyperaktiv entlarven würde. Besonnen legte jeder jeweils seine Karte, und der Kleinste – in diesem Moment siegte meine Schnappatmung über die Apathie – lächelte selbst dann noch, als er das Spiel verlor. Und zwar so gewinnend, als müsste er seiner Familie gerade eine überteuerte Versicherung verkaufen. «Das gibts doch nicht», dachte ich, «bei uns wäre die Hölle los!» Und als ich ihren ebenso wohlerzogenen Hund ins Visier nahm, zoomte mein Blick zu seinem Glarner Halstuch, weil ich hätte schwören können, dass dieses frisch gebügelt war. Beinahe verzweifelt von derart viel Perfektion, nahm ich einen grossen Schluck von meinem Weisswein, als unsere Tochter losjubelte: «Oh die schönen Blumen! Ich geh welche pflücken!» Und sie rannte den Hügel runter, hin zur floralen Pracht.

Perfektes Drama

«Na also, geht doch!», dachte ich. «Wir sind in den Bergen, das Kind pflückt Blumen, flechtet nett einen Kranz und ich komme endlich dazu, mir das Abendrot und meinen Mann zu Gemüte zu führen, statt akribisch den Bügelgrad fremder Hundehalstücher zu studieren!» Doch gerade als meine Schnappatmung einem warmen Wohlgefühl Platz machte, erklang Tochters Schrei derart schrill, dass selbst der gebügelte Hund zusammenzuckte. «Hilfe, ich schaffs nicht mehr rauf!», schrie das Kind und ich sah, wie sie sich am Gebüsch festklammerte. Geübt stufte ich die Lage als nicht lebensgefährlich ein, war froh um das «Das schaffst du schon!» meines Mannes und freute mich darüber, dass der Sohn aufschoss und der Schwester zurief: «Warte! Ich helfe dir!», um dann ebenfalls Richtung Wiese zu stürmen.

Doch als ich gerade das Glas zum Anstossen erhob, um die unglaubliche Farbskala am Himmel zu feiern, erklang ein Geschrei von der Wiese her, das den Bügelhund nun nicht mehr zusammenzucken, sondern jaulend unter den Tisch verziehen liess. Denn mittlerweile schrie nicht nur die Tochter, sondern auch der Sohn stimmte mit ein. Gegenstand des aktuellen Dramas war, wer nun wen den Hügel hochziehen darf.

Verbündete im Wahnsinn des Bewertens

Das Abendrot fiel in mein Glas. Konnte es denn nicht einmal friedlich sein? Doch als ich mir gerade überlegte, mich totstellend neben den Hund unter den Tisch zu legen, rief mir eine fremde Frauenstimme zu: «Bin ich froh, dass das nicht nur bei uns so zu und her geht!» Und von wem kam dieser Satz? Von ihr! Der Vierfachmutter der adretten Kinder und des wohlerzogenen Bügel-Hundes! Ein Moment lang starrte ich sie an, als wäre sie die Inkarnation von Uriella. Ich konnte nicht fassen, dass ebendiese Person, die in meiner Fantasie zum Inbegriff eines perfekten Familienlebens wurde, mir dieses Bild nun wieder entzog.

Oft ist es so anders, als man denkt – und wir sitzen letztlich alle im selben Boot.

«Echt?», stammelte ich verdutzt. «Und ich dachte gerade, wie bilderbuchmässig bei euch alles läuft.» «Bilderbuchmässig? Wir? Ha, wenn du wüsstest!», lachte sie und ebenso fröhlich stimmte ich in ihr Gelächter ein. Für einen kurzen Moment waren wir Verbündete im Wahnsinn des Vergleichens und Bewertens. Und erfolgreiche Detektivinnen in der Entlarvung dieser Illusion.

Es hätte der Anfang einer wunderbaren Freundschaft sein können. Doch leider sollte es nicht dazu kommen, weil sich ihre Kinder urplötzlich zu prügeln begannen, während meine auf einmal einträchtig und mit Blumenstrauss bewaffnet vor uns standen. Die fremde Vertraute und ich schenkten uns einen letzten Blick. Wir ahnten wohl, was gerade im Kopf der anderen vor sich ging: Dass es oft so anders ist, als man denkt – und wir letztlich alle im selben Boot sitzen. Und es meist unsere Selbstverurteilung ist, welche die perfekten Bilder der Anderen knipst.

Und wie steht es um ihre Familienidylle, liebe Leserinnen und Leser? Diskutieren Sie mit.