Mamablog: Individualität statt Normdruck«Läuft er denn schon?»
Auch Kinder, die mit 19 Monaten noch nicht laufen, sind vollkommen ok. Warum wir uns weniger von anderen Eltern verunsichern lassen sollten.
Trotz seines fortgeschrittenen Alters von 19 Monaten macht mein Sohn noch nicht mehr als zwei Schritte ohne Mamas Hand. Aber er findet es grossartig und geniesst den Watschelgang. Dies gilt ebenso für seinen Hüftschwung, der im Übrigen auch kniend wunderbar funktioniert und John Travolta staunen liesse. Auch beim «Frei-Stehen» gehören wir langsam zu den Fortgeschrittenen, was insbesondere in der Badewanne seinen Reiz hat, wenn Mami mit Badeenten beworfen werden soll.
Aus pädiatrischer und evolutionsbiologischer Sicht besteht auch gemäss der Kinderärztin kein Grund zur Sorge. Aber dennoch wurde mir in den vergangenen Monaten keine Frage häufiger gestellt als «Läuft er schon?». Ähm, nein. «Ah, er ist halt ein bisschen ein Fauler». Faul? Schön wärs! Er ist ein Duracell-Häsli (lesen Sie dazu übrigens auch diesen Beitrag), das innert Minuten die Wohnung auf den Kopf stellen, Schränke ausräumen und Dinge auf Nimmer-Wiedersehen verschwinden lassen kann. Wer daran zweifelt, darf gerne einmal einen Abend zum Babysitten vorbeikommen, wobei die Fluchtgefahr nicht zu unterschätzen ist. Sein Krabbeln – das er im Übrigen ebenfalls erst spät entdeckte – hätte Olympiagold auf sicher, sowohl in der Speed- als auch in der Stildisziplin.
Was soll der Stress?
Die individuelle Entwicklung zum aufrechten Gang zeigt, wie verschieden unsere Kinder sind. Zum Glück. Man stelle sich vor, es würden alle genau mit 10 Monaten laufen und mit 12 Monaten ihre Baby-Geheimsprache ablegen – wie langweilig wäre das denn! Wir wollen doch keine Roboter, sondern kleine herzige Mönsterlis, die uns mit ihren individuellen Entwicklungsschritten immer wieder überraschen und zum Lachen bringen.
Ich tendierte lange dazu, mir von Übermüttern ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen.
Und was für den Umgang mit unseren Kleinen gilt, sollten wir uns als Eltern auch mehr zu Herzen nehmen. Sie wissen schon, Vorbildfunktion und so. Ich persönlich tendierte lange dazu, mich von Besserwissern oder Übermüttern verunsichern oder mir gar ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Aber das führt nur zu noch mehr Stress; Stress, der in unserer Tempogesellschaft und insbesondere im Mami- und Papi-Business doch bereits mehr als genug vorhanden ist. So unterschiedlich unser Nachwuchs auch ist, so verschieden sind unsere Stress-Bewältigungsstrategien, die von Zeit zu Zeit zu überdenken und den Entwicklungsschüben anzupassen sind.
Auf der Suche nach der Ursache
Mein Stresslevel war in letzter Zeit recht hoch, weshalb ich begann, Ursachenforschung zu betreiben. Ich realisierte, dass die Morgen vor der Kita enorm anstrengend waren. Was hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass mein Sohn ein fantastischer Schläfer ist, und locker bis um acht, neun oder gar zehn im Land der Träume verweilen kann. Ein enormer Luxus, ich weiss – vermutlich sind die neidischen Leserkommentare bereits unterwegs. Aber gerade deswegen fiel es mir immer schwerer, den kleinen Mann am Morgen zu wecken, zumal ich selbst keine Frühaufsteherin bin. Waren wir erst mal wach, musste das Frühstück verschlungen werden und Anziehversuche führten regelmässig zu lauten Protesten des Kugelblitzes. Und zu Schweissausbrüchen bei mir, sodass eine WhatsApp-Nachricht an die Kita, dass wir «gleich kommen», quasi standardisiert wurde, was mir immer peinlicher wurde.
Seither sind unsere Vormittage meist wesentlich entspannter und wir können gemeinsam in den Tag trödeln.
Schliesslich habe ich mit der Kita, die stets ausgesprochen verständnisvoll reagierte, das Gespräch gesucht. Und siehe da – es ist überhaupt gar kein Problem, wenn wir hin und wieder erst gegen 11 Uhr eintrudeln. Wow, war ich erleichtert! Seither sind unsere Vormittage meist wesentlich entspannter und wir können gemeinsam in den Tag trödeln. Ausserdem erfolgt die Übergabe in der Kita viel problemloser – schliesslich hat der Monsieur ja irgendwann auch genug von Mami.
Ein Kita-Tag nur für mich …
Selbstverständlich bin ich insofern privilegiert, als dass ich meine Arbeitszeiten mehr oder weniger flexibel gestalten darf. Selbst wenn unsere Kita-Regelung womöglich beim einen oder anderen Stirnrunzeln verursacht, ist es meiner Meinung nach nicht nötig, einem Eineinhalbjährigen Strukturen aufzubürden, mit denen er noch früh genug konfrontiert wird. Irgendwann gibt es sowieso kein Entfliehen mehr vor unserem Leistungssystem. Bis dahin gilt es, neben den individuellen Bedürfnissen unserer Kinder auch uns selbst nicht zu vergessen.
Denn erholte Eltern haben nicht nur ein gestärktes Nervensystem und mehr Ausdauer, sie vermögen ihren Kindern auch im gesunden Mass Grenzen aufzuzeigen, ohne gleich in einen lauten Schimpfmodus zu verfallen. Aus diesem Grund geht mein Sohn bald einen zusätzlichen Tag in die Kita und ich mache dann frei. Jawohl. Und auch wenn ich mehrheitlich alleinerziehend bin, würde ich anderen Eltern ebenfalls dringend zu solchen Pausen raten.
Kennen Sie solche Situationen, liebe Leser und Leserinnen, in denen Sie selbst oder der Nachwuchs bewertet oder «geprüft» werden? Wie gehen Sie damit um? Diskutieren Sie mit.
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