Mamablog: Liebesbrief an die TochterDie Beste aller Gute-Nacht-Geschichten
Unsere Autorin hat versucht, einen Mikroteil ihrer Mutter-Tochter-Welt in Worten festzuhalten – und kann es von Herzen weiterempfehlen.
Seit ich meinen letzten Liebesbrief geschrieben habe, sind locker 25 Jahre verstrichen. Abgeschickt hab ich die Briefe nie, geschweige denn in den Schulthek oder in die Jackentasche meines Angebeteten geschmuggelt. Nun habe ich es wieder getan. Dieses Mal schrieb ich an oder besser gesagt über meine Tochter. Ich merkte, wie es mich erfüllte, direkt aus dem Herzen heraus zu schreiben und war dankbar, hatte ich mir diesen Moment genommen. Ich hielt einen Mikroteil unserer gemeinsamen Welt fest, als ob ich ein Foto davon machen würde. Abends las ich ihr dann diesen Text als Geschichte vor und sie strahlte mich an, als sie merkte, dass sie damit gemeint war. Ich kann es von Herzen weiterempfehlen.
Von zarter Kinderhaut und kugelnden Lachkäfern
Sie ist gerade noch so leicht, dass ich sie ein stückweit auf meinem Rücken tragen kann, ohne dass ihr Gewicht mein Tempo zu sehr drosselt. Ihr blondes Haar duftet erdig. Ein wenig nach Wald und Wiese und im Sommer nach Sonnencreme und nach frischen Himbeeren. Der Himbeerduft scheint wie ein Gespenst neben ihr her zu schweben und kommt von ihrem Einhorn-Haarspray, der das wuschelige Kinderhaar zu entwirren verspricht. Natürlich ist er immer viel zu schnell aufgebraucht. Ihre Haut ist so eben und weich, dass höchstens die Innenseite meiner Unterarme mit der Zartheit ihrer Kinderhaut mithalten kann.
Ihr Lachen so ansteckend , dass wir uns regelmässig zusammen auf dem Boden kugeln. Wir sind dann Lachkäfer und liegen auf dem Rücken. Wenn ich lache, muss ich weinen. Als sie kleiner war, musste sie dann auch weinen, weil sie dachte, ich sei traurig. Jetzt fängt sie meine Tränen mit dem Zeigefinger auf und malt damit Gesichter auf die Fensterscheibe. Ihre Augenfarbe hat sich verändert. Als sie zur Welt kam, waren ihre Augen blaugrau, dann grün, was mich besonders freute. Jetzt wandeln sie sich gerade ins Braune. Wenn sie mir eine Frage stellt, blickt sie mich so durchdringend und direkt an, dass ich es nicht wage, ihr eine Antwort schuldig zu bleiben.
Wieso tragen Männer keinen Bikini?
Ihre Energie sprüht wie die eines kleines Vulkans. Ihre Fragen springen wie kleine Feuerbälle in den Raum und lassen niemanden kalt. Wenn sie etwas wissen will, dann ganz genau und bis ins Detail. Ist sie mit den Antworten nicht zufrieden, erklärt sie sich die Welt halt selbst. Auch das ist kein Problem.
«Wieso tragen Männer eigentlich keinen Bikini? Und wieso nur Frauen? Und wollen die Männer denn gar keinen Bikini tragen? Und wieso wollen Frauen nicht, dass man ihre Brüste sieht? Wieso darf ich keinen Bikini tragen? Ich habe doch noch gar keine Brüste.»
Sie erfindet eigene Wörter oder bringt mich dazu, Dingen einen anderen Namen zu geben. Ich darf nicht mehr Brownie sagen, weil sie ihr Huhn so getauft hat. Ich muss Cookie sagen, auch wenn das nicht das Gleiche ist. Aber sie will nicht etwas essen, das den gleichen Namen trägt wie ihr Haustier. Sie setzt sich durch und schafft es, mich zu überzeugen. Wie sie das schafft, ist mir ein Rätsel.
Sie fordert mich heraus und bereichert mich. Jeden Tag von Neuem. Ich sehe dank ihr die Welt aus einer anderen Perspektive, stelle mir Fragen zu alltäglichen Gegebenheiten, die ich die letzten vierzig Jahre für selbstverständlich genommen und akzeptiert hatte. «Wieso nehmen wir hier nicht die U-Bahn? Weil es eine Telefonkabine ist. Was ist eine Telefonkabine? Falls man kein Telefon dabei hat, kann man hier telefonieren. Ok. Komm, wir gehen in die Kabine rein, vielleicht ruft ja jemand an.» Wenn sie erwachsen ist, möchte sie Menschenärztin oder Tierärztin werden. Vielleicht aber auch Glacésorten-Macherin, Milchreis-Köchin oder so eine wie ich. Also eine, die am Rechner sitzt, die Finger über die Buchstaben tanzen lässt, mit Siri spricht, Kaffee aus Mumins-Tassen trinkt, mit unzähligen Listen und Notizbüchern hantiert und abends Geschichten vorliest. Ich wünsche ihr, dass sie so bleibt, wie sie ist.
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