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Impfchef im grossen Abschieds-Interview
«Da würde ich heute zurückhaltender agieren»

Prof. Dr. Christoph Berger, Präsident der Eidg. Impfkommission, am Freitag (27.8.2021) vor dem Kinderspital in Zürich. Foto: Thomas Egli
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Er gehörte während der Pandemie zu den prägenden Akteuren in der Schweiz: Christoph Berger, ab 2015 Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), erklärte uns als «Impf-Papst» die Impfstrategie gegen das Coronavirus – und sorgte immer wieder für rote Köpfe bei Skeptikern und Impfturbos.

Ende 2023 hat der Kinderarzt und Chefarzt der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich sein Amt abgegeben und verlässt nun die Impfkommission ganz. Wie blickt er auf die Pandemie zurück? Welche Folgen hat sie auf das Impfverhalten heute? Wer soll sich wogegen impfen? Und welche Atemwegserreger sind wirklich gefährlich?

Herr Berger, wann beginnt für Sie die Erkältungssaison so richtig?

Die meisten Atemwegserkrankungen haben eine Saisonalität. So richtig beginnt es, wenn es kälter wird und wir in Innenräumen näher beieinander sind. Üblicherweise ist das nach den Herbstferien – also jetzt dann. Wobei wir in diesem Jahr bereits davor relativ viele Atemwegsinfektionen gehabt haben – auch schon im Sommer. Etwa durch Mykoplasmen. Das ist aber untypisch.

Haben Sie sich vorbereitet?

Das machen wir jedes Jahr. Im Moment haben wir noch nicht so viele Kinder mit Atemwegsinfektionen stationär im Spital. Eine Zunahme der Fälle bemerken wir vor allem bei starken Wellen mit dem RS-Virus, also dem Respiratorischen-Synzytial-Virus. Bei den Erwachsenen ist es vor allem die Grippe, die in der Regel von Ende Dezember bis März zu vermehrten Hospitalisationen führt.

Auch sonst legt es die Menschen immer mal wieder ein paar Tage flach. Diese sagen dann, es hätte sie «schwer» erwischt. Wie sehen Sie das?

Für mich als Infektiologe heisst «schwer», wenn eine Behandlung im Spital oder gar auf der Intensivstation nötig wird. Natürlich entspricht das nicht dem, was die meisten unter einer schweren Erkältung verstehen.

Manche werden auch gar nie krank.

Das subjektive Empfinden spielt eine wichtige Rolle. Denn alle infizieren sich mehrmals pro Jahr mit Erregern von Atemwegsinfektionen. Manche haben einfach milde Symptome, die sie nicht spezifisch wahrnehmen. In Kinderarztpraxen ist es ganz typisch, dass Eltern berichten, ihr Kind sei immer wieder krank. Meist gehen beide arbeiten beziehungsweise haben einen durchstrukturierten Alltag. Wenn ihr Kind erkältet ist und nicht in die Krippe kann, wird es für diese Eltern dann schnell aufwendig – unabhängig davon, wie schwer die Erkältung ist. Doch es ist normal, dass ein Kind vor dem Kindergartenalter im Jahr fünf bis zwölf solcher Episoden hat. Wenn jeder dieser Infekte eine Woche dauert, hat es während bis zu einem Viertel des Jahres eine Schnudernase und Husten oder Fieber.

Welche Rolle spielt das Coronavirus Sars-CoV-2 heute noch?

Es ist inzwischen zu einem normalen Erreger geworden, ähnlich wie das Influenzavirus oder das RS-Virus. Bei kleinen Kindern spielt Covid kaum eine spezielle Rolle. Sie können schon mal Fieber bekommen. Bei anderen Infektionen, vor allem jenen mit dem RS-Virus, ist die Gefahr für die Kleinen viel grösser. Senioren können hingegen immer noch schwer an Covid erkranken. Deshalb empfehlen wir, dass sich Personen ab 65 und chronisch Kranke gegen Covid impfen lassen.

Sollten demnach die Bewohner in Alters- und Pflegeheimen durchgeimpft werden?

Das ist die Empfehlung und das Angebot, aber letztlich ist es eine individuelle Entscheidung, ob man sich schützen will.

Und das Personal?

Sars-CoV-2 ist sehr ansteckend, mehr noch als das Grippevirus. Frühere Infektionen oder Covid-Impfungen schützen uns jetzt vor schweren Verläufen. Beides verhindert aber nicht, dass wir das Virus weitergeben und wir mit Schnupfen, Husten oder Fieber krank werden. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht gerechtfertigt, die Mitarbeitenden generell zu einer Impfung zu bewegen. Sie sollten aber bei Patientenkontakt eine Maske tragen, wenn sie Symptome haben. Das schützt die Bewohner und Patienten. Aber nicht vollständig. Unter anderem, weil man meist schon rund ein Tag ansteckend ist, bevor die Symptome einsetzen. Das ist nicht nur bei Sars-CoV-2 so, das gilt auch für das RSV oder das Grippevirus. Man ist also immer etwas zu spät mit dem Schutz. Immerhin ist die Ansteckungsgefahr ohne Symptome geringer, weil man noch nicht hustet.

Gibt es bei Ihnen im Kinderspital eine Impfempfehlung für die Angestellten?

Für Grippe ja, für Covid nein. Bei der Grippe hat man in einer Studie in einem britischen Altersheim gesehen, dass es zu weniger Grippeerkrankungen kommt, wenn alle Besucher und Angestellten geimpft sind. Wenn man das ganz konsequent umsetzen würde, wäre ein geringerer Effekt wahrscheinlich auch bei Covid feststellbar. Weil das Coronavirus aber viel ansteckender ist, ist es deutlich schwieriger, dies zu erreichen. Heute impfen sich allerdings auch gegen Grippe weniger Angestellte als vor der Pandemie.

Warum?

Wir hatten im Kinderspital eine hohe Grippeimpfrate. Dass die heute geringer ist, dürfte der Pandemie geschuldet sein. Damals wurde viel Druck ausgeübt, sich impfen zu lassen, und zwar nicht zum eigenen Schutz. Das galt besonders für das Gesundheitspersonal. Es war generell eine schwierige Phase während der Pandemie, als sich die Menschen impfen lassen mussten, um ins Restaurant, Kino oder Fussballstadion zu kommen. Natürlich stand ein Konzept dahinter. Gerade beim Gesundheitspersonal ist aber bei manchen der Eindruck geblieben, dass die Impfung erwartet wird. Dabei sollte es so sein, dass man sich ohne Druck freiwillig impft, um sich und andere zu schützen. Heute ist es einfacher, eine Maske zu empfehlen als eine Impfung. Im Spital sagen wir, wer krank ist, bleibt zu Hause, und wer Symptome hat, soll eine Maske tragen.

Point de Presse zu Coronavirus. 26.10.2021 Im Bild Christoph Berger.

Sind die Massnahmen während der Pandemie zu weit gegangen?

Ich denke, am Anfang waren die Massnahmen richtig. Sie haben Todesfälle bei Risikopersonen verhindert und wurden von der grossen Mehrheit der Bevölkerung getragen. Zwischendurch hat man versucht, die Einschränkungen gering zu halten – den einen war das zu wenig, den anderen zu viel. Es war aber später sicher richtig, die Einschränkungen schnell zu beenden. Da hat Alain Berset zu Recht zügig vorwärtsgemacht im Vergleich zu den Nachbarländern. Wir können in der Schweiz auch zu Recht stolz sein, dass wir die Schulen nur so kurz geschlossen haben.

Schwierig war der zweite Corona-Winter, als es unterschiedliche Massnahmen für Geimpfte und Ungeimpfte gab. War das sinnvoll?

Es war damals das Ziel, den Impfschutz zu erhöhen, um schwere Erkrankungen und Todesfälle zu vermeiden und die Spitalversorgung zu gewährleisten. Mit der Zeit wurde die Ungleichbehandlung aber zunehmend schwierig für diejenigen, die ein geringes Risiko hatten, selbst schwer zu erkranken. Rückblickend hätte man dies möglicherweise rascher beenden können, nachdem Risikopersonen ausreichend Gelegenheit gehabt hatten, sich zu impfen, und der Effekt der Impfung auf die Übertragung nur noch gering war.

«Die Aussage, ihr müsst euch impfen, damit ihr ins Lager gehen könnt, ist infrage zu stellen.»

Und wie beurteilen Sie rückblickend das Impfen der Jugendlichen?

Aus genannten Gründen ebenfalls als problematisch. Die Aussage, ihr müsst euch impfen, damit ihr ins Lager gehen könnt, ist schon infrage zu stellen.

Man wollte die Gesamtimmunität der Bevölkerung erhöhen und so das Virus ganz wegbringen.

Tatsächlich reduzierte die Impfung am Anfang eine Übertragung des Virus. Das funktionierte einigermassen bei der Ursprungsvariante aus Wuhan, bei den darauffolgenden Varianten Alpha und Delta weniger. Bei Omikron wurden Übertragungen durch die Impfung kaum noch verhindert.

Wie ist das bei der Grippeimpfung: Kann diese verhindern, dass Geimpfte das Virus weitergeben?

Das funktioniert bei der Grippeimpfung besser. Geimpfte Personen erkranken deutlich weniger und übertragen die Viren seltener. Wie sehr, hängt auch davon ab, wie gut der Impfstoff im betreffenden Jahr zu den tatsächlich zirkulierenden Influenzaviren passt.

Die Liste der empfohlenen Impfungen wird immer länger. Vor kurzem ist die Windpockenimpfung hinzugekommen, in diesem Jahr diejenigen gegen Rotaviren und eine Passivimpfung für Babys gegen das RSV. Was sagen Sie zur Kritik, dass Kinder wegen der vielen Impfungen am Ende gar nicht mehr erkranken und sie dadurch ihr Immunsystem nicht richtig aufbauen können?

Das ist ziemlich absurd. Die Kinder haben weiterhin reichlich Gelegenheit, ihr Immunsystem aufzubauen. Gegen viele Infektionserreger können und müssen wir gar nicht impfen. Zudem tragen die empfohlenen Impfungen einen wichtigen Teil zum Aufbau des Immunsystems bei.

Ein Argument lautet, dass es für die psychische Entwicklung der Kinder gut sei, wenn sie mal eine Woche oder länger richtig krank sind. Was halten Sie davon?

Wir haben ja schon darüber gesprochen, wie häufig Kinder krank werden. Das Ziel der Impfungen ist es, gefährliche Infektionen zu verhindern, da, wo wir das können. So, wie jetzt neu bei der Immunisierung gegen das RSV, das bisher zu Hunderten Spitaleinweisungen von Babys jeden Winter in der Schweiz führte. Bei den Windpocken verursacht das Virus ab 50 Jahren bei vielen Ungeimpften eine Gürtelrose. Diese ist mit dem Alter zunehmend schmerzhaft und kann zu ernsthaften Komplikationen führen.

«Die Impfbereitschaft für kleine Kinder hat sich nach der Pandemie praktisch nicht verändert.»

Wie sieht es mit den Nebenwirkungen von Impfungen aus? Können Sie die Skepsis von Leuten nachvollziehen?

Es gibt Nebenwirkungen, und auch die Vorbehalte gibt es. Umso mehr bin ich sehr positiv überrascht, was in diesem Jahr passiert: Die Impfbereitschaft für kleine Kinder hat sich nach der Pandemie praktisch nicht verändert. Auch die neuen empfohlenen Impfungen gegen Meningokokken und Rotaviren werden stark nachgefragt. Aber natürlich gibt es auch die kritischen Eltern. Ihre Bedenken sollten wir Fachpersonen unbedingt anhören und in einem offenen Gespräch darauf eingehen.

Wieso denken Sie, dass es keinen Rückgang bei der Impfbereitschaft gegeben hat?

Die allermeisten Eltern möchten ihre Kinder mit Impfungen vor schweren Krankheiten schützen. Hinzu kommt, dass Alltag und Familienleben wie erwähnt oft sehr strukturiert und durchorganisiert sind. Windpocken oder eine Infektion mit Rotaviren kommen da nie gelegen. Das dürfte bei manchen Eltern auch ein Grund sein.

Dann beschränkt sich das Misstrauen vor allem auf die Covid- und vielleicht noch Grippeimpfstoffe?

Bei einem Teil der Erwachsenen. Interessant ist, dass sich viele dann trotzdem bereitwillig gegen alles Mögliche impfen lassen, wenn es um die Ferien geht.

Vor allem bei Corona sind die Vorbehalte gegenüber den Impfstoffen bei manchen bis heute sehr gross. Viele erzählen von ernsten Komplikationen wie Lähmungserscheinungen, Gürtelrose oder schmerzhaften Gelenk- und Hautentzündungen.

Ja, die Skepsis ist da, und es gibt Komplikationen. Die Betroffenen müssen ernst genommen und es soll ihnen geholfen werden. Und es ist richtig, dass entsprechende Meldungen angeschaut und bei einem tatsächlichen Impfschaden auch anerkannt werden.

Bis jetzt wurde in der Schweiz gerade mal ein einziger Fall anerkannt.

Am Ende sind es mehr. Die Abklärungen sind beim Bund noch im Gange. Bis diese abgeschlossen sind, müssen Betroffene leider viel Geduld haben. Grundsätzlich ist es so, dass es bei jeder medizinischen Intervention Nebenwirkungen gibt.

Trotz Berichten über schwere Nebenwirkungen halten die Impfkommission Ekif und das Bundesamt für Gesundheit an ihren Empfehlungen fest; auch an denjenigen während der Pandemie?

Ja, denn am Ende ist es immer eine Abwägung von Nutzen und Risiken. Schwere Nebenwirkungen sind sehr selten. Dem gegenüber stehen die verhinderten Krankheitsfälle und die schweren oder tödlichen Verläufe. Das müssen Sie immer in Relation stellen.

Bei der Covid-Impfung erscheint manchen suspekt, dass es sich beim mRNA-Impfstoff um eine neue Technologie handelte, die während der Pandemie sehr schnell eingeführt wurde.

Unabhängig von Pandemie und Covid: Ich habe keine Bedenken wegen der mRNA-Impfstoffe. Im Gegensatz zu vielen anderen Impfstoffen geben Sie dem Körper anstelle eines Proteins, das eine Immunreaktion auslöst, eine mRNA-Sequenz. Diese dient den Zellen als Bauplan für ein Protein, das die Immunreaktion dann auslöst. Nachdem weltweit inzwischen Milliarden Dosen verimpft wurden, ist heute ziemlich klar, dass diese Impfstoffe gut verträglich sind. Beim AstraZeneca-Impfstoff gegen Covid, der nicht auf mRNA-Technologie basiert, hat man hingegen früh gemerkt, dass man wegen seltener Nebenwirkungen genauer hinschauen muss. Da waren wir in der Schweiz sehr konsequent und haben den Impfstoff hierzulande nicht zugelassen.

Sie waren während der Pandemie als Präsident der Impfkommission fast rund um die Uhr eingebunden und standen von allen Seiten in der Kritik. Hadern Sie manchmal noch mit Entscheiden oder Auseinandersetzungen von damals?

Nein, diese Zeit ist abgeschlossen. Es war eine unerwartete Herausforderung, eine ungewöhnliche und facettenreiche Rolle, die ich nie antizipiert hätte. Aber klar, bei allem, was man macht, nimmt man etwas mit. Das gilt auch für meine Zeit während der Pandemie. Bei gewissen Themen reagiere ich heute anders, habe mehr Verständnis und dazugelernt.

«Bei den Impfempfehlungen für die jungen Gesunden würde ich heute zurückhaltender agieren.»

Wo haben Sie heute mehr Verständnis?

Ein Punkt ist sicher die Impfempfehlungen für die breite Bevölkerung, insbesondere die jungen Gesunden. Natürlich sollen diejenigen impfen können, die das möchten. Aber Empfehlungen, bei denen es vor allem darum geht, andere und nicht sich selbst zu schützen, sind schwierig. Während der Pandemie gab es deswegen ja auch Widerstände. Da würde ich heute noch zurückhaltender agieren. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Frage, um die ich mich heute noch mehr kümmern würde: Welche Empfehlungen sind nicht mehr nötig, wie kommen wir zurück zur Normalität? Und als dritter Punkt würde ich künftig noch klarer in Szenarien denken und kommunizieren, solange vieles noch unklar ist.

Die Pandemie war für Sie eine sehr intensive Zeit. Sie haben bestimmt wenig geschlafen in der Zeit?

So war es. Aber es ist eine Aufgabe, in die man hineinwächst. Zugespitzt hat es sich vor allem in der Phase, als es um die Frage ging, ob wir auch Kinder gegen Covid impfen sollen. Das war eine Gratwanderung mit Anfeindungen – und zwar von beiden Seiten. Die einen fanden es komplett falsch, jetzt die Kinder zu impfen. Die anderen verstanden nicht, wieso nicht empfohlen wurde, alle Kinder zu impfen. Das war Ende 2021. Die Stimmung war extrem aufgeheizt. Die Aufregung hat sich ja rasch weitgehend gelegt.

Diese konstante Kritik von allen Seiten haben Sie offenbar gut weggesteckt.

Das gehört doch dazu. Wir hatten viel zu tun und mussten vorwärtsmachen.

Sie hätten auch sagen können: Jetzt ist gut, es soll jemand anderes meinen Job übernehmen. Bei der wissenschaftlichen Taskforce ist das ja mehrfach so geschehen.

Ich war da im Lead der Impfkommission und die Kommunikation lief über mich. Für diese Rolle bin ich hingestanden und habe die Inhalte vertreten und bin Rede und Antwort gestanden. Ich hatte von A bis Z einen guten Austausch in der Impfkommission und den vollen Rückhalt.

Sie sind seit Ende 2023 nicht mehr Präsident der Impfkommission und verabschieden sich demnächst ganz aus dem Gremium. Wird Ihnen diese Arbeit fehlen?

Ich habe sie jetzt elf Jahre gemacht. Irgendwann ist genug. Es gibt neue Leute, die bereit sind, sich zu engagieren, und die es sehr gut machen.