Schwaches WachstumChina fällt als Lokomotive der Weltwirtschaft aus
Immobilienkrise und schrumpfende Bevölkerung belasten die Entwicklung in der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt. Das hat weltweit Auswirkungen – bis in die Schweiz.
China hätte im laufenden Jahr wieder zur Wachstumslokomotive der Welt werden sollen. Doch der Aufschwung zum Jahresbeginn entpuppte sich als Strohfeuer. Chinas Wirtschaft hat im zweiten Quartal deutlich an Schwung verloren. Die chinesischen Börsen gehören zu den Schlusslichtern im laufenden Jahr.
Der chinesische Aussenhandel ist im Juni eingebrochen. Gemäss dem nationalen Statistikamt fielen die Exporte um mehr als 8 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die Detailhandelsumsätze lagen nur wenig höher als in dem von Lockdowns geprägten Vorjahr, die Autoverkäufe gingen gar zurück. Trotz des pandemiebedingten Nachholbedarfs gaben die Reisenden während des traditionellen Drachenbootfestes im Juni deutlich weniger Geld aus als vor der Pandemie. Die Jugendarbeitslosigkeit erreichte im zweiten Quartal mit 21 Prozent einen neuen Höchststand.
Seit Oktober vergangenen Jahres sinken die Produzentenpreise, also die Preise für Waren und Zwischenprodukte ab Fabrik, immer tiefer ins Minus. Das schürt Befürchtungen vor einer Deflation, einer für die Wirtschaft schädlichen Preisspirale nach unten. Die Konsumentenpreise sinken seit Februar von Monat zu Monat. Die Jahresinflation sank im Juni auf null.
Die sinkenden Produzentenpreise in China haben kurzfristig eine dämpfende Wirkung auf die Inflation in den USA und in Europa, weil die westlichen Unternehmen und Haushalte billiger einkaufen können.
Auf der anderen Seite beeinträchtigt das schleppende Wachstum die Konjunktur im Westen. Zuerst trifft dies die rohstoffexportierenden Länder wie Brasilien und Australien. Betroffen sind aber auch die Exporteure von Hightechgütern oder Firmen, die stark von der chinesischen Baukonjunktur abhängig sind.
Schweizer Ferienorte müssen auf Touristen warten
Einen Dämpfer versetzt die jüngste Entwicklung auch den Hoffnungen der Schweizer Tourismusbranche. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich hatte im Mai einen starken Anstieg der Logiernächte vorhergesagt und dies auch mit der Rückkehr chinesischer Reisender begründet.
Doch die Krise dämpft die Reiselust. In die südostasiatischen Tourismusdestinationen wie Thailand reisen derzeit nicht einmal halb so viele Chinesen wie vor der Pandemie. Auch Interlaken, Engelberg, Luzern und andere beliebte Reiseziele werden sich gedulden müssen.
Gemäss einer Untersuchung der ETH-Konjunkturforschungsstelle ist rund ein Fünftel der Schweizer Industrieunternehmen mittel bis stark von kritischen Vorleistungen aus China abhängig. Am grössten ist die Abhängigkeit in der Elektronikbranche, gefolgt von der Pharma- und Chemiebranche.
Viele Schweizer Industriefirmen investieren weniger in China
Für einige Unternehmen ist China ein sehr wichtiger Markt. So erwirtschaftet der Luxusgüterkonzern Richemont fast 30 Prozent seines Umsatzes dort. Zwischen 10 und 20 Prozent sind es beim Technologiekonzern ABB, dem Liftbauer Schindler, den Chemiefirmen Ems und Sika, dem Schraubenspezialist Bossard, dem Textilmaschinenhersteller Rieter und dem Halbleiterzulieferer VAT.
«Wir wollen unsere Crew in China bis 2024 verdoppeln.»
Die zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen und China zwingen die Unternehmen dazu, ihre China-Strategien zu überarbeiten. Gemäss der KOF-Untersuchung planen vier von fünf der befragten Unternehmen, in Zukunft mehr Vorleistungen aus Europa zu beziehen, zwei von fünf wollen mehr in Europa produzieren.
In einer Umfrage der Handelskammer Schweiz-China erklärten 17 Prozent der Firmen, sie würden Investitionen streichen, 26 Prozent wollen sie aufschieben. Aber der chinesische Markt bleibt angesichts seiner Grösse wichtig: Mehr als die Hälfte der Befragten hält an den geplanten Investitionen fest.
Und wenige bauen gar aus, so etwa der Ems-Konzern. «Wir wollen unsere Crew vor Ort bis 2024 verdoppeln», sagte Mehrheitsaktionärin Magdalena Martullo-Blocher am vergangenen Freitag.
Hoch verschuldete Immobilienfirmen
Belastend wirkt nach wie vor die Immobilienkrise. Laut Statistikbehörde gingen die Immobilieninvestitionen in der ersten Jahreshälfte um rund 8 Prozent zurück. Der Verkauf von Gewerbeimmobilien sank um gut 5 Prozent. Im zweiten Quartal standen in Peking gut 18 Prozent der Büroflächen leer, so viele wie seit dreizehn Jahren nicht mehr. In immer mehr Städten stagnieren oder sinken die Wohnungspreise.
Das ist ein Problem. Weil Altersvorsorge, Sozialhilfe, Arbeitslosen- und Krankenversicherung ungenügend sind, haben chinesische Haushalte den Grossteil ihres Vermögens in Immobilien investiert. Sinkende Preise sind deshalb Gift für die Konsumentenstimmung und die Investitionsbereitschaft.
Vor kurzem scheiterte die Zwangsversteigerung eines riesigen Bauprojekts in Shenzhen. Die Immobilienfirma Shimao Group fand keinen Käufer für ihr 1,8-Milliarden-Dollar-Projekt – trotz eines starken Abschlags.
Die hoch verschuldeten Immobilienentwickler bilden ein Risiko für das Finanzsystem und die lokalen Regierungsbehörden. Denn diese sind hauptsächlich verantwortlich für das chinesische Wachstum. Sie geben Geld für Infrastruktur, Wohnungsbau und andere Projekte aus und stellen so sicher, dass die Wachstumsziele der Zentralregierung in Peking erreicht werden. Dazu haben sie Schuldenberge angehäuft, können aber wegen der Krise weniger Bauland verkaufen und haben Mühe, sich zu finanzieren.
Langfristige Belastung wegen schrumpfender Bevölkerung
Zu den akuten Problemen im Immobilienmarkt kommt eine schrumpfende Bevölkerung. Die Geburtenrate in China ist seit 2017 regelrecht eingebrochen: Im Schnitt gebärt eine Chinesin nur noch knapp 1,2 Kinder. Die chinesische Geburtenrate war im vergangenen Jahr die niedrigste seit Beginn der Aufzeichnungen.
Das weckt Erinnerungen an die Krise in Japan vor dreissig Jahren. Das Land schien Ende der 1980er-Jahre auf dem besten Weg, die USA wirtschaftlich zu überholen, setzte einseitig auf schuldengetriebenes Wachstum von Investitionen und Export, die Bevölkerung begann zu schrumpfen. Die enormen Ungleichgewichte führten schliesslich zum Platzen der Immobilienblase – und in der Folge zu jahrzehntelanger Stagnation.
Chinas staatliches Finanzsystem ist weniger anfällig für Finanzkrisen, aber die Probleme könnten die Entwicklung über längere Zeit behindern. Schon jetzt wächst das Land nicht mehr viel schneller als die USA oder Deutschland.
Wuchs China in den zehn Jahren vor der Pandemie mit 6 bis 10 Prozent pro Jahr, hält der Internationale Währungsfonds bis 2027 nur noch gut 4 und danach 3 Prozent für wahrscheinlich. Die Rolle der Wachstumslokomotive müssten dann andere Länder übernehmen.
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