Mamablog: PerspektivenwechselBlinddate mit einer Flüchtlingsfamilie
Unsere Welt ist kleiner und enger geworden. Zeit, die Komfortzone zu verlassen, dachte sich unsere Autorin – vor allem auch wegen der Kinder.
Vor den Herbstferien hatte unsere Familie ein Blinddate. Und wie es sich für ein solches gehört, waren wir alle ganz schön aufgeregt, als wir beim vereinbarten Treffpunkt standen und auf eine Flüchtlingsfamilie warteten, die wir noch nie im Leben gesehen hatten.
Vermittelt wurde uns dieser Kontakt durch die grossartige Organisation «Gemeinsam Znacht», die solche Treffen zwischen Einheimischen und in die Schweiz geflüchteten Personen vermittelt. In der Regel lädt man die Flüchtlinge zu einem Znacht bei sich zu Hause ein, den wir angesichts der prallen Kinderschar aber kurzerhand in eine Zoo-Einladung umwandelten.
Über den Tellerrand blicken
Entstanden ist der Plan, über den Tellerrand zu blicken, während dem Lockdown im April. Im Garten zwitscherten die Vögel und ich war sicher, dass einer von ihnen gerade «Corona» gepfiffen hatte, so fest waren wir alle von diesem Thema durchdrungen. Die Grenzen waren zu. In mir war es eng. Und als die Kinder schon wieder: «Dörfemer game?» schrien, explodierte in mir ein Bedürfnis, genau diese Grenzen zu sprengen und – sobald möglich – unsere Komfortzone zu verlassen.
Denn schliesslich gab es bereits im Frühjahr noch zwei, drei andere Probleme nebst Corona auf dieser Welt. Ging nicht vor nicht allzu langer Zeit eine Welle des Aufschreis durchs Volk, als die Bilder überfüllter Flüchtlingsschiffe um die Welt gingen? Was ist mit diesen Menschen? Wohl kaum haben sich ihre Schicksale in Luft aufgelöst, bloss weil sie in den Medien und unserem Bewusstsein kaum mehr Platz erhalten. Ich schaute meinen Kindern zu, deren Augen inzwischen starr in die viereckigen Geräte versenkt waren, betrachtete die hohe Hecke vor dem Fenster, die die Welt von uns trennte, und meldetet uns bei «Gemeinsam Znacht» als Gastgeber an.
Diese Enge in uns ist die Kehrseite einer sicheren Verwurzelung.
Es sollte eine Flüchtlingsfamilie mit Kindern sein, das war mir wichtig. Denn ich wollte nicht nur mir, sondern auch den Kindern einen Blick über unsere viel zu hochgewachsene Hecke schenken. Denn eigentlich ist diese Enge in uns ja die Kehrseite einer sicheren Verwurzelung. Eine Basis, die geflüchteten Menschen radikal genommen wurde.
Bereits ein paar Tage später wurde uns eine Familie aus Eritrea vorgeschlagen, mit Kindern von 1, 3 und 11 Jahren. Deutschkenntnisse gering. Mit der Elfjährigen liesse sich am einfachsten reden. Plötzlich fand ich meine Idee gar nicht mehr lustig, sah uns mit den Eltern sprachlos in der Küche sitzen, während fünf Kinder zusammen die Hütte auseinandernehmen. Doch war nicht genau das meine Absicht – endlich mal die «Komfortzone zu verlassen»? Also, her mit dem Kontakt.
Einfühlen in eine andere Welt
Als uns sechs Monate später die zugeteilte Familie vor dem Zoo gegenüberstand, verschwanden die Zweifel aber schlagartig. Was für sympathische Eltern, was für goldige und quirlige Kinder. Und obwohl die Konversation tatsächlich nicht einfach war, spielte das so gar keine Rolle. Durch den Zoo streifend waren wir einfach nur Menschen, die sich gegenseitig etwas zu geben hatten. Ich hatte ganz vergessen, wie das mit so kleinen Kindern ist, dass sie einem nur wenige Momente der Ruhe gönnen. Umso mehr genossen wir es, als die Eltern eritreischen Kaffee und Fladenbrot auspackten und wir einen Augenblick zum Plaudern hatten, während die Kinder den Spielplatz unsicher machten.
Der Vater erzählte uns, dass er mit siebzehn in den Krieg eingezogen wurde und dort zwölf Jahre lang diente. Durch Bruchstücke von Sätzen erfuhren wir von ihrer getrennten Flucht, die sie erst in den Sudan und dann mit Schleppern in die Schweiz führte. Vieles konnte nicht gesagt werden. Doch das war auch nicht nötig. Das Einfühlen in diese so andere Welt brauchte keine Worte. Im Gegenteil. Dass wir nicht alles zerreden konnten, machte diese auf einer anderen Ebene erst richtig greifbar.
Verlorene Heimat
Als wir durch die wunderschöne, neu eröffnete Savannenlandschaft des Zoos liefen, rief der Mann plötzlich: «Genau diese Tiere gab es bei uns auch», und die Frau deutete auf eine der Hütten und meinte, in solch einer hätten sie gewohnt. Da begriff ich für einen kleinen Moment die Absurdität einer Flucht. Wie wir da durch den Zoo wackelten und uns die Umstände ihres alten Lebens anschauten, die ihnen einfach entrissen worden waren. Diese Menschen tragen so viel Traumatisches in sich, das an ihrem neuen Lebensmittelpunkt kaum ein Gesicht findet.
Wir verabschiedeten uns herzlich voneinander und versprachen, uns wiederzusehen. Als unsere Familie dann alleine im Tram sass, sagte keiner ein Wort. Wir waren berührt. Bewegt. Dankbar, dass unsere Welt mit einer anderen hatte verschmelzen dürfen. Und keiner, aber wirklich keiner, fragte, ob man jetzt dann mal gamen dürfe. Und das ist bei weitem nicht der einzige Grund, warum ich allen ans Herz legen möchte, sich auch mal für ein solch bereicherndes Abenteuer anzumelden. Denn gerade jetzt kann es richtig guttun, die Sprengung dieser so klein gewordenen eigenen Welt zu planen.
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