Analyse zum Flüchtlingslager Moria«Hilfe vor Ort» – was für eine faule Ausrede!
Auf griechischen Inseln werden Flüchtlinge schlecht behandelt, um andere Flüchtlinge abzuschrecken. Ein führender Migrationsexperte fordert die sofortige Evakuierung.
Es gibt Sätze, die man in jeder Lebenslage verwenden kann, und sie machen sich nie schlecht. «Es braucht zunächst einmal eine Auslegeordnung» – wer würde da widersprechen? «Die Regierung ist gefordert.» Ja, natürlich, wann nicht?
Der dunkelfarbene Blazer jeder migrationspolitischen Diskussion ist die Phrase von der «Hilfe vor Ort». Passt immer, lässt sich mit fast jedem ideologischen Outfit kombinieren, wirkt sportlich-modern und niemals anstössig.
Trotz 2,5 Milliarden Euro Hilfsgeldern werden die Zustände immer schlimmer.
Seit in Moria auf der griechischen Insel Lesbos ein Flüchtlingslager mit 13’000 Insassen abgebrannt ist, seit Bürgerinnen und Bürger, NGOs, Flüchtlingshelfer, Stadtregierungen und links-grüne, in Deutschland auch christlich-soziale Parteien fordern, die Opfer der Brandstiftung müssen aufs Festland evakuiert und in andere Staaten gebracht werden – seit diesem Moment erfreut sich der Spruch von der Hilfe vor Ort bei den Gegnern der Evakuierung einer geradezu exponentiell wachsenden Beliebtheit. In Zeitungskommentaren, Foreneinträgen, Politiker-Statements.
Das ist immer so, wenn sich irgendwo eine Flüchtlingskrise zuspitzt. Wer den Satz gebraucht, signalisiert: Ich bin zwar kein naiver Gutmensch. Aber eben auch kein Unmensch.
Das Lager in Moria gibt es seit sieben Jahren, und genauso lange hätte Hilfe vor Ort die Zustände dort verbessern können. Unter anderem dafür hat Griechenland 2,5 Milliarden Euro von der EU erhalten. Stattdessen verschlimmert sich die Lage immer mehr. Für 3000 Personen geschaffen, ist Moria, bevor es abgebrannt ist, zum Unort für 13’000 Migranten geworden.
Doku über Moria: Besser nicht mit Kindern anschauen.
Zu wenig fliessendes Wasser, stundenlanges Warten, um Essen zu erhalten und sich zu waschen. Zwischen den Zelten Abfallberge, die Ratten und Schlangen anlocken, Babys, die nachts von Ratten gebissen werden. Einen kürzlich gedrehten Dokumentarfilm über Moria versahen deutsche Medien mit dem Warnhinweis, ihn besser nicht zusammen mit Kindern anzuschauen.
In anderen Lagern auf den griechischen Inseln ist es gemäss Zeugenaussagen noch schlimmer. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schreibt, die griechische Regierung setze «auf eine sukzessive Verschlechterung der ohnehin schon üblen Bedingungen in den Lagern, um Flüchtlinge oder Migranten in der Türkei von einer Überfahrt abzuschrecken». Die EU hat dies zumindest schweigend gebilligt.
Die Blazerträger dürfen nun gern sagen, man treffe realpolitische Entscheide nicht aufgrund von Emotionen. Und es sei unstatthaft, die Tränendrüsen der öffentlichen Meinung zu massieren. Unstatthaft, um nicht zu sagen feige, ist es eher, sich mit solchen Floskeln vor der Konfrontation mit der Realität zu drücken.
Eine Realität, die nicht nur europäische Grundwerte verletzt, sondern auch illegal ist. Die Behandlung von Flüchtlingen in Moria und auf anderen griechischen Inseln verstösst gegen die EU-Grundrechtscharta, die Genfer Flüchtlingskonventionen, die Europäische Menschenrechtskonvention, die UN-Kinderrechtskonvention.
«Sofort evakuieren»
Im April 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angeordnet, dass acht Insassen von Moria in einer menschenwürdigen Behausung mit angemessener medizinischer Versorgung unterzubringen seien. Es sind nur acht, weil es schwierig und zeitraubend ist, überhaupt an dieses Gericht zu gelangen. Ohne die Hilfe von NGOs und Anwälten geht das nicht.
Der Österreicher Gerald Knaus ist einer der angesehensten Migrationsexperten Europas. Er war massgeblich daran beteiligt, den sogenannten Türkei-Deal auszuhandeln, der ab 2016 die Migration über die Ägäis vorübergehend nahezu gestoppt hat.
Knaus ist kein naiver Idealist, verlangt er doch seit langem schnellere Asylverfahren, die Ausarbeitung von Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsländern und die konsequente Abschiebung von Flüchtlingen, deren Asylbegehren abgelehnt wurde. Er fordert aber auch, den Herkunftsländern anzubieten, jährlich Kontingente legaler Arbeitsmigranten aufzunehmen.
Zu Moria sagt Knaus in einem Telefongespräch: «Man muss die griechischen Inseln aus humanitären Gründen sofort evakuieren.» Weil die Türkei den Flüchtlingspakt aufgekündigt habe und keine abgewiesenen Asylbewerber mehr zurücknehme, müssten die Migranten sonst auf unbegrenzte Zeit in den Lagern ausharren. Ausserdem seien unter den gegenwärtigen chaotischen Zuständen faire Asylverfahren nahezu unmöglich.
Knaus schlägt vor, anerkannte Asylbewerber vom griechischen Festland aus in aufnahmewillige EU-Länder zu verteilen und damit Platz zu schaffen, um die Migranten von den Inseln wegzubringen. «Eine ähnliche Operation hat man zwischen April 2016 und September 2017 schon einmal durchgeführt, ohne dass deshalb der Migrationsdruck auf die griechischen Inseln zugenommen hätte.»
Halb leere Aufnahmezentren
In der Schweiz sind mehrere Stadtregierungen bereit, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen. Weil die Zahl der Asylbewerber so tief ist wie lange nicht mehr, sind die Aufnahmezentren halb leer. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Bundesrat allenfalls auf eine Bitte nach Resettlement vonseiten der EU eintreten würde, während er das Angebot Schweizer Städte mit juristischen Ausflüchten zurückweist.
Das Glas ist selten randvoll im Leben, und in der Flüchtlingspolitik schon gar nicht. Es ist tatsächlich nicht auszuschliessen, dass die Evakuierung der Flüchtlinge von den griechischen Inseln einen sogenannten Pull-Faktor darstellt, also mehr Personen zur Flucht nach Griechenland veranlassen würde.
Die Frage ist, ob man dies im Sinne einer Güterabwägung nicht in Kauf nehmen muss. Und ob es legitim ist, Unmenschlichkeit bewusst als abschreckendes Mittel einzusetzen. Die Befürworter des willentlich erzeugten Schreckens sind bereit, humanitäre Grundwerte zu opfern und gegen internationales Recht sowie rechtsstaatliche Prinzipien zu verstossen.
Sie sollten wenigstens den Mut aufbringen, dazu zu stehen. Und sich nicht mit dem billigen Spruch von der Hilfe vor Ort davonstehlen.
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