Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Leitartikel zur Corona-Politik
Blast die «Normalisierung» ab!

Bundesrat Alain Berset spricht an einer Medienkonferenz, am Mittwoch, 24. November 2021, in Bern.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Jetzt also eine neue Virusvariante aus Südafrika. Ob der sich dort ausbreitende Covid-Mutant B.1.1.529 so gefährlich ist, wie es erste Hinweise implizieren, wissen wir noch nicht bestimmt. Zahlreiche Länder, darunter die Schweiz, haben am Freitag jedenfalls schon mal die Flugverbindungen nach Südafrika gekappt. Eine Massnahme, die uns bestenfalls etwas Zeit verschafft.

Die zweite grosse Neuigkeit dieses Freitags: Der Bund gibt die dritte Dosis der zugelassenen mRNA-Impfstoffe für unter 65-Jährige vollständig frei. Einen Orden haben sich die zuständigen Behörden - das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und das Heilmittelinstitut Swissmedic – damit nicht verdient. In anderen Ländern lief die Booster-Kampagne für Jüngere bereits vor Wochen an. In der Schweiz hat man wertvolle Zeit verstreichen lassen.

Dennoch ist zu hoffen, dass die Entscheide vom Freitag einen Neustart markieren: eine Befreiung aus der Lethargie, die in den vergangenen Monaten die Pandemiepolitik dieses Landes prägte. Man macht alles ein bisschen später, von allem ein bisschen weniger, natürlich erst nach Konsultation der Kantone, sofern man ihnen nicht die Entscheide gleich in Gänze zuschiebt: Das war bisher die «Strategie» des Bundesrats. Was spricht dafür, dass sie uns einigermassen glimpflich durch den anstehenden Corona-Winter führen kann? Leider nicht viel, im Gegenteil: Selbst wenn die südafrikanische Virusvariante weniger gefährlich als befürchtet sein sollte, steuert unser Gesundheitswesen auf eine bedrohliche Situation zu. Dafür sprechen sämtliche Indikatoren aus dem Ausland, davor warnen die meisten einheimischen Fachleute.

Schädliches «Mindset»

Um das Schlimmste zu verhindern, muss der Bundesrat daher mehr tun, als bloss über zusätzliche Schutzmassnahmen nachzudenken (das auch): Er muss das «Mindset», das er sich selber und der Bevölkerung eingepflanzt hat, von Grund auf ändern.

Zur Erinnerung: Im Frühjahr, als die mRNA-Impfungen frisch auf dem Markt waren, trat die Regierung mit ihrem 3-Phasen-Modell an die Öffentlichkeit. Dieses sah einen schrittweisen Übergang von einer «Schutzphase» zur «Stabilisierungsphase» vor, auf die am Ende die «Normalisierungsphase» folgen sollte. Letztere plante der Bundesrat einzuläuten, sobald «alle impfwilligen erwachsenen Personen vollständig geimpft» seien. «Der Bundesrat ist der Ansicht, dass dann keine starken gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einschränkungen mehr zu rechtfertigen sind.» Sollte sich – so heisst es in den Ausführungen zum Modell weiter – die Situation wider Erwarten doch noch einmal verschärfen, würden Restriktionen, wenn überhaupt, nur noch gegenüber Ungeimpften verfügt.

Mit anderen Worten: Der Pandemieplan des Bundesrats präsentierte sich als geradliniger Verlauf durch den Tunnel ins Licht. Von möglichen Rückschlägen, neuen Virusvarianten und nachlassender Impfwirkung war höchstens im Kleingedruckten die Rede. In den grossen Linien lief alles kurvenfrei auf eine Rückkehr zur vollständigen Freiheit per Ende 2021 heraus. Das war die Botschaft ans Volk, geboren aus dem rührigen Bemühen, den Lockdown-geplagten Menschen eine «Perspektive» zu geben.

Tatsächlich läutete der Bundesrat im August die «Normalisierungsphase» ein. Sie ist offiziell noch heute, Ende November, in Kraft – mit schweizweit zuletzt 8000 Corona-Infektionen innert 24 Stunden und neuen Lockdown-Schatten über ganz Europa.

Nüchternheit kann nur helfen

Dieser Zustand ist natürlich absurd, und noch absurder wäre nur seine Verstetigung. Seit Wochen zeigt sich der Bundesrat paralysiert ob der bevorstehenden Volksabstimmung. Wenn das Volk am Sonntag – hoffentlich – klar Ja sagt zu den Covid-Zertifikaten, fallen die letzten Ausreden dahin. Der Bundesrat sollte dann ein Zeitalter neuer Ehrlichkeit einläuten.

Dies bedeutet auch, dass er sein naiv-optimistisches 3-Phasen-Modell durch ein variantenreicheres Dispositiv ersetzt. Die gerade Linie gibt es nicht, die Normalität müssen wir vorerst leider abblasen. Niemand weiss, wann diese Pandemie enden wird, niemand weiss, wie viele Rückschläge wir bis dann erleiden werden. Die Erwartung schneller Normalität jedoch, die der Bundesrat in den letzten Monaten schürte, gebiert fast zwangsläufig Wut und Enttäuschung. Ein nüchterner Blick auf die Lage kann die Akzeptanz von Massnahmen wie Zertifikat, Impfung oder auch temporärer Restriktionen nur fördern.

Und dabei können wir alle nur gewinnen. Denn zwar weiss niemand, wann diese Pandemie enden wird. Wie wir sie verkürzen könnten, wissen wir dagegen sehr wohl.