Biodiversitätsinitiative30 Prozent der Schweiz unter Schutz – eine Zahl sorgt vor Abstimmung für Wirbel
Die Zahl steht nicht im Initiativtext. Trotzdem warnen die Gegner damit vor den Folgen der Biodiversitätsinitiative. Verbreiten sie Fake News? Oder gibt es eine versteckte Agenda?
An dieser Zahl hat sich eine Kontroverse entzündet: 30 Prozent. Diesen Anteil der Landesfläche wollen die Naturschützer der Biodiversität in Zukunft zur Verfügung stellen. Das behaupten zumindest die Gegner der Biodiversitätsinitiative, die am 22. September zur Abstimmung kommt. Aktuell sähen die Initianten nur 8 Prozent als ausreichend geschützt an. Es fehle also eine Fläche von der Grösse der Kantone Bern, Freiburg, Neuenburg und Solothurn – eine Fläche, die künftig «praktisch unantastbar» wäre.
Die Initianten widersprechen und verweisen auf den Initiativtext. Demnach sorgen Bund und Kantone dafür, dass «die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen». Ein Flächenziel wird im Text nicht genannt. Verbreiten die Gegner also Fake News?
Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führt nach Montreal. Dort nimmt im Dezember 2022 eine Delegation des Bundes an der Weltnaturkonferenz COP15 teil. Die Gruppe ist vom Bundesrat mandatiert und soll sich für «ambitionierte» Ziele einsetzen. Was diese dann auch macht: Die Schweiz unterstützt das – auch von Wissenschaftlern geforderte – «30 by 30»-Ziel: Bis 2030 sollen – und hier kommt die umstrittene Zahl ins Spiel – 30 Prozent der weltweiten Landes- und Meeresfläche wirksam unter Schutz gestellt werden.
Pro Natura kritisiert den Bundesrat
Ein Jahr später kritisieren die Initiativbefürworter den Bundesrat scharf. Der Umweltverband Pro Natura wirft der Regierung vor, das «30 by 30»-Ziel mit «Zahlenspielereien» erreichen zu wollen. Eine fachliche Analyse habe ergeben, dass nur 8 Prozent der Landesfläche den geforderten Schutz für die Biodiversität böten – und nicht 23 Prozent, wie der Bund behaupte.
Wörtlich schreibt Pro Natura in der Mitteilung: «Um das ‹30 by 30›-Ziel in der Schweiz zu erreichen, braucht es sowohl einen stärkeren rechtlichen als auch faktischen Schutz gewisser bereits ausgewiesener Gebiete sowie eine Ergänzung durch zusätzliche Flächen, die alle seltenen Arten und Lebensräume in ausreichendem Umfang schützen.»
Und weiter: «Bevor dies nicht erreicht ist, ist es falsch, zu behaupten, zusätzliche Schutzflächen seien nicht nötig und die bestehenden Gesetze und Pläne seien ausreichend. Es braucht unbedingt mehr statt weniger Naturschutz und deshalb auch ein Ja zur Biodiversitätsinitiative.»
Damian Müller und Markus Ritter warnen
Eine Verknüpfung zwischen dem «30 by 30»-Ziel und der Initiative sieht Pro Natura in diesem Statement nicht – sehr wohl aber die Gegner. Sie befürchten, dass nach einem Ja am 22. September die Befürworter auf eine rigide Umsetzung des «30 by 30»-Ziels drängen werden.
Dies wäre aus ihrer Sicht umso fragwürdiger, als sich der Beschluss von Montreal lediglich auf ein Verhandlungsmandat stützt, das der Bundesrat mit der Billigung der Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat verabschiedet hat. Es handelt sich also nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag – anders als etwa das Pariser Klimaabkommen, das Regierungsvertreter unterzeichnet und Parlamente ratifiziert haben. Im Fall der Schweiz tat dies die damalige Umweltministerin Doris Leuthard 2016, ein Jahr später folgten National- und Ständerat.
Damian Müller übt vor diesem Hintergrund Kritik: Unverbindliche Dokumente, von Beamten verabschiedet, würden plötzlich zum Massstab für alles, so der FDP-Ständerat. Gerichte würden der Schweiz in der Folge Auflagen aufzwingen, die aus solchen «nicht bindenden» Abkommen abgeleitet würden. «Das ist eine Farce und ein Problem in der Schweizer Aussenpolitik.» Besorgt ist auch Mitte-Nationalrat und Bauernchef Markus Ritter: «Ich gehe davon aus, dass die Bundesverwaltung in die Richtung von 30 Prozent arbeiten wird.»
Wie gross sind die Chancen der Biodiversitätsinitiative?
Eine andere Frage ist, wie das Parlament die Initiative umsetzen würde. «Alle Parteien beteuern, dass sie die Biodiversität fördern wollen», sagt Pro-Natura-Sprecherin Rutz. Ein Ja zur Initiative werde es ihnen ermöglichen, gemeinsam pragmatische Lösungsvorschläge zu erarbeiten.
Denkbar ist, dass sich das Parlament am Gegenvorschlag orientieren würde, den es während der Beratung der Initiative abgelehnt hat. Dieser sah vor, die Qualität der bestehenden Schutzgebiete zu verbessern und diese besser miteinander zu vernetzen. Allzu scharf dürfte die Umsetzung jedenfalls kaum ausfallen. Mit SVP, FDP und der Mitte stellen im Parlament jene Kräfte die Mehrheit, die die Biodiversitätsinitiative ablehnen.
Ob sich das Parlament mit dieser Frage überhaupt je auseinandersetzen muss, ist aber fraglich. Gemäss der ersten Tamedia-Umfrage befürworten 51 Prozent das Anliegen. Weil die Zustimmung zu Volksinitiativen im Lauf des Abstimmungskampfs in der Regel abnimmt, scheinen Erfolgschancen für die Naturschützer nicht eben gross zu sein.
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