Biodiversitätsabstimmung am 22. September Wie geht es den wertvollen Lebensräumen der Schweiz wirklich?
Der Zustand gefährdeter Arten und Lebensräume hat sich verbessert. Warum Fachleute dennoch vor falschen Schlüssen warnen, zeigt unser Überblick.
In der aktuellen Debatte vor der Abstimmung zur Biodiversitätsinitiative im September werden Fakten unterschiedlich und teilweise falsch interpretiert. Gibt es eine Biodiversitätskrise oder nicht? Ein Überblick über das, was die Wissenschaft weiss.
Seit wann beobachten wir hierzulande einen Rückgang der Biodiversität?
Die Intensivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung im Zeitraum zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1980er-Jahren haben zu den grössten Verlusten der Schweizer Biodiversität geführt. Die systematische Datenerhebung der Biodiversität begann erst vor 30 Jahren, also als die Bedingungen für die Biodiversität am schlechtesten waren. So bedeutet ein Aufwärtstrend etwa im Bestand einer Art noch keine Trendwende.
Wie gut geht es den Lebensräumen?
Die «Rote Liste für Lebensräume», die im Auftrag des Bundesamts für Umwelt erstellt wurde, zeigt: Knapp die Hälfte der untersuchten 167 verschiedenen Lebensräume gilt als gefährdet. Darunter sind Moore, Trockenwiesen, Ufer, Fliessgewässer und Grünland. Die Gründe für die Gefährdung sind unter anderem: Nährstoffeintrag, Zersiedelung, Austrocknung, Verbuschung und invasive, gebietsfremde Arten. Die Siedlungsfläche der Schweiz ist zwischen 1985 und 2018 um fast ein Drittel grösser geworden. Als Folge der dichteren Bebauung nahm der Versiegelungsgrad weiter zu. Die Versiegelung finde meistens dort statt, wo die besten Böden seien, sagt Adrienne Grêt-Regamey vom Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung der ETH Zürich.
Zu den am stärksten betroffenen Lebensräumen gehören unter anderem Gewässer und Ufer. In rund 30 Prozent der Schweizer Fliessgewässer – besonders im Mittelland – sei die Artenvielfalt so niedrig, dass die Wasserqualität «mangelhaft» sei, heisst es im Bericht «Biodiversität in der Schweiz» des Bundesamts für Umwelt. Zudem sind zahlreiche Bäche und Flüsse nach wie vor stark verbaut.
Schon fast symbolhaft für den Eingriff des Menschen in die Landschaft ist der Zustand der Moore in der Schweiz. Die Menschen haben einst in praktisch jedem Hochmoor im Jura Torf gestochen und diese anschliessend für die Landwirtschaft trockengelegt.
Dadurch sind im Laufe der letzten 150 Jahre etwa 90 Prozent der Moorgebiete zerstört worden. Die wertvollsten Restflächen sind heute geschützt. Die Moore von nationaler Bedeutung decken rund 0,6 Prozent der Landesfläche ab, wie das Bafu mitteilt. «Insgesamt finden wir trotz vielen erfolgreichen Renaturierungen generell in den Mooren eine schleichende Austrocknung«, sagt Ariel Bergamini, Experte für Biotopschutz am Eidgenössischen. Forschungsinstitut für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).
Bemerkenswert ist auch der Zustand der Lebensraumtypen in landwirtschaftlichen Gebieten: 58 Prozent sind gefährdet. Flächen mit ökologischer Qualität bedecken in der Tal- und Hügelzone lediglich 4 bis 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, heisst es im Bericht «Gefährdete Arten und Lebensräume in der Schweiz» von Bafu und Infospecies, dem Schweizerischen Informationszentrum für Arten. Verantwortlich dafür ist unter anderem der Verlust an Bäumen, Hecken und Steinhaufen und anderen Kleinstrukturen auf den landwirtschaftlichen Nutzflächen.
Ein Problem ist auch nach wie vor der hohe Eintrag an Stickstoff und Pestiziden in die Umwelt. Davon profitieren vor allem häufig vorkommende Pflanzen- und Tierarten, die konkurrenzstark sind und seltenere Arten verdrängen. «Das führt zu einer Vereinheitlichung der Lebensgemeinschaften, was die Stabilität von Ökosystemen schwächt», sagt Jodok Guntern, stellvertretender Leiter des Forums Biodiversität.
Wie reagieren Pflanzen und Tiere auf den Verlust des Lebensraumes?
Der Verlust an Lebensraum widerspiegelt sich in den Roten Listen, für die bisher ein Fünftel aller bekannten Arten in der Schweiz bewertet sind: 35 Prozent dieser Arten sind als ausgestorben oder gefährdet eingestuft, etwa 12 Prozent als potenziell gefährdet. Es gibt aber auch zahlreiche Pflanzen- und Tierarten, deren Population in den letzten zehn Jahren vermeintlich stabil geblieben ist oder zugenommen hat.
Biodiversitätsforscher warnen allerdings vor Trugschlüssen: Das Forum für Biodiversität nimmt das Beispiel der Amphibien, deren Rückgang sich generell in den letzten 15 Jahren verlangsamt hat – dank erfolgreicher Anstrengungen von Bund, Kantonen und Privaten. «Das heisst aber noch lange nicht, dass die grossen Verluste der letzten Jahrzehnte damit kompensiert wurden», sagt Jodok Guntern vom Forum Biodiversität. Ein Beispiel sei die Geburtshelferkröte, deren Zahlen zwar zunehmen, aber deren Bestand nach wie vor gefährdet ist. Es sei bei vielen Tier- und Pflanzenarten mit Bestandszunahmen deshalb zu früh, um Entwarnung zu geben.
Ein anderes Beispiel ist der Swiss-Bird-Index, der die Entwicklung der regelmässig in der Schweiz brütenden Vogelarten wiedergibt: Der Zustand der Vogelwelt hat sich demnach seit 1990 verbessert. Das ist positiv zu werten. Die Schweizerische Vogelwarte relativiert aber auch: Der Index stehe für die mittlere Veränderung über viele Arten hinweg, das sei aber ein zu vereinfachtes Abbild. Der aktuelle Zustandsbericht der Vogelwarte zeigt, dass Bestände etwa der Mönchsgrasmücke oder Elster zunehmen, aber viele einheimische Vogelarten wie die Feldlerche oder die Bachstelze weiter zurückgedrängt werden.
Was für die Vogelarten gilt, stellen Forschende generell für Fauna und Flora fest: Den Spezialisten geht es generell schlechter. So werden etwa Arten, die nährstoffarme Böden mögen, zurückgedrängt. Oder kälteliebende Arten bekunden zunehmend Mühe, sich an die Erderwärmung anzupassen. Zudem erhöht sich das Risiko, dass eingeschleppte, wärmeliebende Arten einheimische Arten vermehrt verdrängen.
Warum braucht es eine hohe Artenvielfalt, um Ökosysteme zu stabilisieren?
Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die belegen, dass Ökosysteme dank einer reichen Artenvielfalt weniger anfällig sind für Umweltveränderungen wie etwa Trockenheit und Wärme. Wälder zum Beispiel, die eine breite Altersstruktur, eine grosse Artenvielfalt und reichlich Totholz aufweisen, sind resistenter und erholen sich schneller von Umweltstörungen wie Sturmwürfe oder Käferplagen. Es ist wie an der Börse: Ein Portfolio mit vielen verschiedenen Aktientiteln reduziert das Risiko vor grossen Verlusten und bietet Sicherheit.
Wie gut wirken die bisherigen Fördermassnahmen zur Biodiversität?
Die Schweiz ist grundsätzlich vorbereitet, um die Biodiversität zu fördern. Der Bundesrat hat 2012 die Biodiversitätsstrategie festgelegt und 2017 einen Aktionsplan dazu beschlossen.
Dass sich Schutzmassnahmen lohnen, zeigt das Beispiel Biotopschutz. Für den WSL-Forscher Ariel Bergamini ist das Projekt eine Erfolgsgeschichte: «Der Flächenrückgang der inventarisierten Biotope wie Flach- und Hochmoore, Trockenwiesen oder Auen konnte weitgehend gestoppt werden.» Als gutes Beispiel nennt er die renaturierten Thurauen bei Flaach.
Trotzdem warnt der Wissenschaftler, dass die Umsetzung des Biotopschutzes viel zu langsam sei. Bei 75 Prozent der gut 7100 nationalen Biotopobjekte sei die Umsetzung ungenügend.
Es brauche mehr Fläche für Biotope wie etwa Tümpel für Amphibien, damit seltene Arten eine überlebensfähige Population aufbauen könnten, sagt Ariel Bergamini. Und Biotope müssten vernetzt werden. Das heisst: Es braucht Korridore und Trittsteine, damit die Arten wandern können.
Braucht es mehr Schutzgebiete?
Das UN-Biodiversitätsabkommen hat festgeschrieben, weltweit 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz zu stellen. «Auch in der Schweiz müssen gut 30 Prozent der Landesfläche geschützt und extensiv bewirtschaftet werden, um den Erhalt der Biodiversität und wichtiger Ökosystemleistungen in Zukunft zu gewährleisten», sagt Markus Fischer, Professor für Pflanzenökologie am Institut für Pflanzenwissenschaften der Universität Bern. Gemäss dem neuen Bericht zum Zustand der Biodiversität hat die Schweiz bisher nur gut 13 Prozent der Landesfläche für die Erhaltung der Biodiversität definiert. Es geht dabei nicht nur um definierte Schutzgebiete, sondern auch um extensiv bewirtschaftete Landwirtschaftsflächen und Gebiete in schlechtem Zustand wie Moore, die immer noch entwässert werden, oder Auen, die renaturiert werden müssten.
Die Restfläche wertvoller Lebensräume sei in der Schweiz so klein, dass für das Überleben von Arten heute zusätzliche Flächen nötig seien, sagt Jodok Guntern vom Forum Biodiversität. Die Anzahl der Biodiversitätsförderflächen hat zwar seit 2011 laut Bundesamt für Umwelt deutlich zugenommen. Und die Ausscheidung zeige auch einen positiven Effekt auf die Vielfalt an Pflanzen und Tierarten. Allerdings: Die Fördermassnahmen vermögen den Biodiversitätsverlust in der Landwirtschaft nicht zu kompensieren.
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