Interview mit Neuroth-ChefDank Apple werden Hörgeräte cool
Mithilfe künstlicher Intelligenz könnten Hörgeräte bald simultan übersetzen, sagt Lukas Schinko, Chef der Hörakustik-Kette Neuroth.
- AirPods Pro 2 können durch ein Update als Mini-Hörgeräte fungieren.
- Die Hörakustik-Kette Neuroth sieht Chancen in der wachsenden Nachfrage nach Hörhilfen.
- Die neue Funktion beinhaltet laut Lukas Schinko von Neuroth Chancen und Gefahren.
- In den USA hat Apple eine offizielle Zulassung als erste rezeptfreie Hörgeräte-Software erhalten.
Sie sind beinahe unsichtbar klein, aber fast omnipräsent in den Ohren der Menschen – im Zug, an der Supermarktkasse oder im Fitnesscenter: Die kleinen Kopfhörer, die Musik oder Podcasts direkt ins Ohr übertragen. Die knopfartigen Geräte können sogar noch viel mehr, zumindest die AirPods Pro2 von Apple. Ende Oktober verwandelten sie sich in Mini-Hörgeräte. Die Nutzerinnen und Nutzer mussten dafür lediglich ein entsprechendes Update herunterladen.
Diese vermeintlich kleine Neuerung hat enormes Potenzial. Es handle sich um einen «grossen Moment», die neuen AirPods würden das Leben von «Millionen Menschen auf fast magische Weise verbessern», schrieb das amerikanische «Wall Street Journal» bei der Lancierung. Was heisst das für die Hörgeräte-Branche? Lukas Schinko, Chef der Neuroth-Gruppe, der grössten Hörakustik-Kette der Schweiz, sieht darin Chancen und Gefahren.
Herr Schinko, mit Apple ist ausgerechnet die wertvollste Firma der Welt in das Geschäft mit Hörgeräten eingestiegen. Wie wollen Sie sich wehren?
Das ist nicht nötig, denn die neuen AirPods sind ein Türöffner. Apples Hörgeräte-Offensive ist für uns positiv, denn sie beflügelt gleich zwei Bedürfnisse, für die wir stehen: Einerseits wächst die Einsicht, wie wichtig es ist, das Gehör zu schützen, wenn es bei einem Konzert oder am Arbeitsplatz zu laut ist. Andererseits wächst der Anspruch, reduzierte Hörfähigkeit mit technischen Hilfsmitteln auszugleichen – etwas, was bisher ein Stigma-behaftetes Thema war.
Sie erhoffen sich folglich, dass künftig viel mehr Menschen Hörhilfen verwenden werden?
Das ist gut möglich, denn das Bewusstsein für verminderte Hörleistung wird durch die Zusatzfunktion der AirPods stark steigen. Physiologisch nimmt die Hörleistung ab dem 40. Lebensjahr ab. Wie rasch dies jemanden stört, ist jedoch sehr individuell. Wir wissen, dass die Betroffenen im Bewusstsein, dass sie einen Hörverlust haben, sieben bis zehn Jahre brauchen, bis der Leidensdruck genug hoch ist, um zu uns zu kommen. Sie erklären uns dann jeweils, alle anderen würden nuscheln, die Akustik sei überall so schlecht oder sie hätten schlecht geschlafen. Doch das sind alles Ausreden.
Welche Folgen hat es, wenn Menschen schlecht hören?
Besonders schmerzhaft ist es, wenn Menschen erst dann bei uns im Laden erscheinen, wenn sie ihren Fernseher nicht mehr verstehen. Wenn es so weit kommt, haben sie sich sozial schon so stark zurückgezogen, dass sie nur noch zu Hause sitzen. Einmal kam eine Kundin zu mir und meinte, sie sei im Park gesessen, habe keinen einzigen Vogel mehr zwitschern gehört und angenommen, es seien bereits alle ausgestorben.
Mit einem Hörknopf im Ohr herumzulaufen, scheint völlig normal zu werden, bei den Jungen sowieso. Sind wegen Apple Hörgeräte jetzt cool?
Hörgeräte als eigentliche Lifestyle-Gadgets funktionieren nicht richtig. Aber Hörgeräte in den eigenen coolen Lifestyle zu integrieren, das funktioniert perfekt. Wichtig ist, dass wir auf gutem Weg sind, mit individuellen Lösungen und einem steigenden Bewusstsein für die eigene Hörstärke Hörgeräte zu entstigmatisieren.
Mit dem neusten Software-Update von Apple kann man sein Gehör testen und bekommt mit den richtigen Kopfhörern auch gleich eine Art Hörgerät. In den USA hat Apple im September eine offizielle Zulassung als erste rezeptfreie Hörgeräte-Software erhalten. Sie braucht keine professionelle Anpassung durch einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt mehr. Dadurch sinken die Kosten und es kommen zunehmend günstige Nachahmerprodukte auf den Markt. Das setzt Hörgeräte-Händler wie Neuroth unter Druck.
Wer sollte zu Ihnen in den Laden kommen, wenn man sein Hörgerät im Internet bestellen und es bequem zu Hause konfigurieren kann?
Keine Frage: Künftig werden mehr Menschen ihre Hörhilfen online bestellen. Doch das Anpassen zu Hause ist in vielen Fällen nicht so einfach. Deshalb wird auch künftig ein bedeutender Anteil der Hörgeräte im Laden verkauft werden, wo eine persönliche Beratung und Unterstützung mit technologischem Fachwissen geboten wird. Aus medizinischen Gründen verschriebene Hörgeräte sind keine Produkte von der Stange. Wenn jemand nicht mehr gut hört, handelt es sich nicht einfach nur um einen technisch messbaren Hörverlust. Die Menschen hören zuerst mit dem Hirn. Das heisst: Im Höreindruck steckt sehr viel Emotionales. In der Fachsprache sprechen wir von Psychoakustik.
Psychoakustik? Was ist das?
Es kann zum Beispiel sein, dass für den einen eine Verstärkung viel zu laut wird, für den anderen aber ist sie gerade notwendig, damit er das Gesagte versteht. Folglich kann man nicht nur messen und sagen, ich habe eine Differenz von X, und wenn ich diese eliminieren kann, hört jemand wieder gut.
Dass Apple nun AirPods mit Geräuschverstärkung anbietet, ist möglich dank des rasanten Fortschritts von künstlicher Intelligenz. Was wird durch KI künftig sonst noch möglich sein?
Was jetzt kommt, ist tatsächlich ein technologischer Meilenstein. Denn nachdem jetzt bereits Hörgeräte standardmässig Bluetooth- oder WLAN-fähig sind, ermöglicht die künstliche Intelligenz, dass die Signalverarbeitung nicht mehr im Internet respektive in der Cloud erfolgt, sondern direkt im Hörgerät. Künftig wird so sogar die Simultanübersetzung möglich sein, denn bisher scheiterte sie daran, den Ton in Echtzeit ins Gehör zu bringen. Die Verzögerung darf höchstens 20 Millisekunden betragen, sonst passen die Lippenbewegungen und das Gehörte nicht zusammen, was unnatürlich wirkt und anstrengend ist.
Was kann KI sonst noch?
Die Algorithmen verbessern das allgemeine Hörerlebnis, weil sie automatisch erkennen, ob man sich in einem Restaurant, bei einem Familientreffen oder in einer Vorlesung befindet. Das Hörgerät kann dementsprechend umschalten. Auch im Bereich E-Gesundheit sehe ich Möglichkeiten.
Was meinen Sie damit? Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich trage eine Apple Watch, die mich von A bis Z trackt – Anzahl Schritte, Körpertemperatur, Zuckergehalt, Puls und so weiter. Diese Messungen kann man nicht nur am Handgelenk vornehmen, sondern auch im Ohr.
Was braucht es bis zum Durchbruch?
Schwierigkeiten, die es nun zu lösen gilt, sind die erforderliche hohe Leistung und die Energieversorgung. Hörgeräte brauchen einen viel längeren Akku als etwa AirPods, die oftmals nur ganz wenige Stunden durchhalten.
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