Angriff auf Kiewer KinderspitalUkrainische Ermittler finden Motorteile des russischen Geschosses
Der verheerende Angriff auf Kiew und mehrere Städte im Land zeigt einmal mehr, wie schlecht es um die ukrainische Luftverteidigung steht. Kiew erhofft sich Hilfe vom am Dienstag beginnenden Nato-Gipfel.
Einen Tag nach einer verheerenden Angriffswelle Russlands ist die Zahl der Todesopfer in der Ukraine auf mindestens 46 Menschen gestiegen, fast 200 Menschen wurden teils schwer verletzt. Noch tödlicher als der Raketentreffer auf das Kiewer Ochmatdit-Kinderspital war ein Treffer auf einen Wohnblock im Kiewer Stadtteil Schewstschenkowski. Dort starben laut dem Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko zwölf Bewohner. Tödlich war auch ein Treffer auf eine Familienplanungsklinik im Kiewer Stadtteil Dnipro: Dort starben fünf medizinische Mitarbeiter und zwei Patientinnen, so die Klinikverwaltung gegenüber Kiewer Medien.
Insgesamt starben allein in Kiew mindestens 32 Menschen, wurden 117 verletzt. Mit zehn weiteren Toten in der Grossstadt Kriwi Rih, einem Toten in Dnipro und drei Toten im frontnahen Pokrowsk starben mindestens 46 Menschen. Präsident Selenski zufolge wurden bei den Angriffen fast 100 Gebäude zerstört oder beschädigt.
Einmal mehr trat die mangelhafte Luftabwehr der Ukraine als Problem zutage. Gemäss dem ukrainischen Luftwaffenchef Mikola Oleschtschuk feuerte Russland am 8. Juli insgesamt 38 Marschflugkörper und Raketen aus den russischen Regionen Saratow und Kursk und von der besetzten Krim auf die Ukraine ab. Die ukrainische Luftabwehr konnte insgesamt 30 abschiessen. Doch das Kinderspital in Kiew wurde getroffen – von einem russischen Kh-101-Marschflugkörper.
Nach der Bombardierung stellten ukrainische Ermittler Motorteile und die Seriennummer des Geschosses fest. Andri Jermak, Stabschef von Präsident Selenski, gab an, dass die russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101 «Dutzende Komponenten, Mikroelektronik, die in den Ländern der (die Ukraine unterstützenden, d. Red.) Allianz produziert werden», enthalten. Darüber müsse beim Nato-Gipfel in Washington gesprochen werden. «Es ist notwendig, den Strom der Mikroelektronik zu stoppen, der es den Russen zu töten erlaubt», forderte Jermak im Messengerdienst Telegram.
Russland leugnet – und ignoriert Beweise
Die Angriffswelle am Montag rief auch den UNO-Sicherheitsrat auf den Plan. Am Dienstag wollte das Gremium in einer Sondersitzung über den russischen Angriff auf das Kiewer Kinderspital beraten. Was die Sache nicht einfacher macht, ist, dass Russland seit dem 1. Juli Vorsitzender des Sicherheitsrats ist. Nach dem Angriff in Kiew behauptete Russlands Verteidigungsministerium, das Kinderkrankenhaus sei von Trümmern einer ukrainischen Abfangrakete getroffen worden.
Das Video eines Kiewer Passanten, das unter anderem vom Institut für Kriegsstudien (ISW) in Washington geprüft wurde, zeigt anderes: den unbeschädigten Marschflugkörper beim Anflug und den Moment der Explosion. Auf die Familienplanungsklinik hingegen schlugen dem ISW zufolge Trümmer einer russischen Rakete ein, die die Ukraine zuvor abgeschossen hatte.
Biden will Luftverteidigung stärken
US-Präsident Joe Biden kündigte nach den Angriffen vom Montag an, er werde auf dem am Dienstag beginnenden Nato-Gipfel in Washington «neue Massnahmen bekannt geben, um die ukrainische Luftverteidigung zu stärken». Die Hilfe gilt als umso dringender, als Russland gemäss dem langjährigen ukrainischen Luftwaffensprecher Juri Ihnat seine Angriffssteuerung verbessert hat. In Washington soll auch Thema sein, dass die Ukraine russische Militärziele innerhalb Russlands angreift.
Von den an Kiew gelieferten Luftabwehrsystemen sollen neben dem Patriot-System aus US-Produktion auch das französisch-italienische Samp/T-System, das deutsche Iris-T-System oder das amerikanisch-norwegische Nasams in der Lage sein, Marschflugkörper oder gegnerische Kampfflugzeuge abzuschiessen. Allerdings reicht selbst das weitreichendste System Samp/T lediglich 120 Kilometer weit. Davon befindet sich bisher nur ein System in der Ukraine. Der Abschuss russischer Kampfflugzeuge ist bisher nur durch Patriot-Systeme bekannt.
Deutschland hat bisher drei von vier in der Ukraine stationierten Patriot-Systemen geliefert, das dritte davon offenbar erst in den letzten Tagen. Italiens Aussenminister bestätigte Anfang Juni, dass Italien und Frankreich ein weiteres Samp/T-System liefern wollen. Deutschland ist damit Kiews grösster Lieferant von Flugabwehrsystemen.
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Der ukrainische Präsident Selenski rief zu mehr Entschlossenheit gegenüber Moskau auf. «Wir müssen russische Raketen abschiessen. Wir müssen russische Kampfflugzeuge dort zerstören, wo sie basiert sind.» Er dürfte unter anderem den Militärflughafen im russischen Woronesch meinen, 250 Kilometer von der Grenze entfernt. Von dort starten russische Flugzeuge und greifen die Ukraine mit Gleitbomben und Marschflugkörpern an. Den Einsatz weitreichender US-amerikanischer ATAMCS-Raketen gegen diesen Flughafen erlaubt Washington nicht. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz verweigert zudem weiter die Lieferung von bis zu 500 Kilometer reichenden Taurus-Marschflugkörpern.
Die zögerliche Haltung Washingtons und Berlins kritisierte jüngst Kurt Volker, Ex-US-Sonderbeauftragter für die Ukraine: Auf dem Nato-Gipfel werde allen drängenden Fragen ausgewichen. «Der Westen hat immer noch keinen Plan, wie ein Sieg der Ukraine erreicht werden soll.»
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