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Brisante Recherche
Die FDP plante den Bruch der deutschen Regierung offenbar Wochen voraus

dpatopbilder - 06.11.2024, Berlin: Christian Lindner (FDP, l-r), amtierender Bundesminister der Finanzen und FDP-Parteivorsitzender, kommt mit Bijan Djir-Sarai, FDP-Generalsekretär, und Christian Dürr, Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, nach seiner Entlassung durch den Bundeskanzler zu einem Pressestatement. Foto: Christoph Soeder/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (KEYSTONE/DPA/Christoph Soeder)
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In Kürze:
  • Öffentlich zeigte sich Christian Lindner empört über seine Entlassung durch Olaf Scholz.
  • Ein für SPD und Grüne unannehmbares Forderungspapier sollte die Koalition sprengen.
  • Der Kanzler entliess Lindner vor dem geplanten Rücktritt der FDP.

In der Öffentlichkeit spielt Christian Lindner bis heute den Unschuldigen und weist jeden Verdacht von sich, den Rauswurf seiner Partei aus der deutschen Regierungskoalition provoziert zu haben. Am Abend seiner Entlassung am 6. November zeigte sich der Finanzminister und FDP-Chef vielmehr empört über das «genau vorbereitete Statement» von Olaf Scholz. Dieses belege nur, dass es dem Kanzler und seinen Sozialdemokraten im Streit um das Budget und die Schuldenbremse nie um eine Einigung gegangen sei, sondern nur um einen «kalkulierten Bruch der Regierung».

Ob Lindners Erzählung zutrifft, daran hatten viele Medien schon damals erhebliche Zweifel. Die «Zeit» hat nun aber in einer umfangreichen Recherche erstmals nachgezeichnet, dass wahrscheinlich das Gegenteil wahr ist: dass Lindner und seine Partei den Bruch seit Ende September minutiös geplant hatten. Die «Süddeutsche Zeitung» veröffentlichte einige Stunden danach eine eigene Recherche mit demselben Tenor.

Laut der «Zeit» begann das Ende der Ampel am Sonntag, 29. September, als sich die FDP-Spitze um Lindner in der sogenannten Truman-Villa in Potsdam traf, um über die Zukunft ihrer Regierungsbeteiligung zu sprechen. Dabei seien Szenarien besprochen worden, die von Einfach-Weitermachen bis zu einem kalkulierten Bruch gereicht hätten. Die Meinungen seien auseinandergegangen. Insbesondere Verkehrsminister Volker Wissing habe sich für einen Verbleib ausgesprochen. Die meisten hätten widersprochen.

Schauspieler Lindner sei gefragt, meint der Justizminister

Lindner habe seinerseits früh klargemacht, dass er für seine Partei nur noch eine Überlebenschance sehe, wenn sie die Regierung bald verlasse. Entsprechend sei in der Folge auch fast nur noch über dieses Szenario gesprochen worden. Justizminister Marco Buschmann sagte laut «Zeit», es komme sowieso nur auf Lindner an, da dieser die FDP ja danach in Neuwahlen führen müsse. Auch der beste Schauspieler könne seine Rolle nur authentisch spielen, wenn er sich in seiner Rolle wohlfühle.

Lindners Leute gingen laut «Zeit» danach mit einem Plan auseinander, in dem zwei Papiere eine zentrale Rolle spielen sollten: ein wirtschaftspolitischer Forderungskatalog, der für Sozialdemokraten und Grüne unannehmbar wäre, und ein Bericht, der aus FDP-Sicht die verheerende Bilanz grüner Politik für Deutschland nachzeichnen sollte. Auch ein detaillierter Zeitplan sollte ausgearbeitet werden.

Als dieselbe Gruppe eine Woche später am selben Ort wieder zusammenkam, war Lindner laut Teilnehmern, mit der die «Zeit» gesprochen hat, bereits einen Schritt weiter. Teile der vorbereiteten Texte wurden in Präsentationen an die Wand geworfen, ein Szenario zum Rücktritt der eigenen Minister besprochen, falls der Kanzler nicht bereit wäre, die FDP aus der Regierung zu werfen.

Lindner soll gesagt haben, er könne «diese Fressen» nicht mehr sehen

Am 14. Oktober traf sich die Gruppe erneut, diesmal in der Parteizentrale in Berlin. In einer Powerpoint-Präsentation sei ein Zeitstrahl zu sehen gewesen, wann welche Schritte unternommen werden sollten, um die Regierung im November zu stürzen: die Veröffentlichung der provozierenden Papiere etwa, die systematische Blockade aller Koalitionsvorhaben und die Sitzungen mit den Noch-Koalitionspartnern.

Als Wissing noch einmal Bedenken anmeldete, stellte Lindner laut «Zeit» ein Ultimatum. Er sehe sich ausserstande, die Partei in die nächsten Wahlen zu führen, solange diese noch Teil der Regierung sei. «Entweder die Ampel oder ich», resümiert die «Zeit» sein Argument. Lindner soll auch laut geworden sein: Die FDP müsse da raus, die Ampel müsse enden. Er könne «diese Fressen» einfach nicht mehr sehen. Die grosse Mehrheit folgte Lindner.

Der Bruch wurde laut «Zeit» fortan «D-Day» genannt, nach dem Tag der Invasion der Alliierten in der Normandie, das «Wirtschaftswende»-Papier «Torpedo». Als Erstes sollte Ende Oktober aber das vorgeblich interne Papier über die Grünen an die Medien geleakt werden, um diese gegen die FDP aufzubringen und die eigene Basis zu mobilisieren.

epa11699948 German Finance Minister Christian Lindner (L) and German Chancellor Olaf Scholz talk at the Chancellery in Berlin, Germany, 03 November 2024. Parts of the so-called traffic light coalition of SPD, Greens and FDP are currently meeting for consultations at the Chancellery. EPA/CLEMENS BILAN

Dann aber glitten der FDP laut «Zeit» die Ereignisse aus der Hand: Am 1. November publizierte Minister Wissing in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» einen Gastbeitrag, in dem er einen möglichen Rückzug der FDP aus der Regierung als unverantwortlich kritisierte. Wenige Stunden später berichtete der «Stern» über den Torpedo, der die Regierung schliesslich in die Luft sprengen sollte: das Papier zur Wirtschaftswende. Es hatte exakt die von Lindner gewünschte Wirkung.

Der weitere Ablauf ist nach Berichten verschiedener deutscher Medien bereits im Wesentlichen bekannt. Bei einem Abendessen mit Scholz im Kanzleramt sprach Lindner am Sonntag, 3. November, erstmals davon, dass man gemeinsam Neuwahlen anstreben solle, könne man sich nicht mehr einigen. Am nächsten Morgen liess der Kanzler seine Leute drei Reden für den kommenden Mittwoch ausarbeiten: eine für den Fall, dass man sich noch einig werde, eine für den Fall, dass die FDP die Koalition von sich aus aufkündige, eine für den Fall, dass er Lindner entlasse.

Lindner wiederum hatte aus diesem Treffen laut «Zeit» den Eindruck gewonnen, dass Scholz vor einer Entlassung eher zurückschrecke. Bei einem Treffen am nächsten Morgen, zu dem Wissing nicht mehr eingeladen war, plante die FDP deswegen ihren eigenen Rücktritt. «D-Day» dafür sollte nicht der Mittwoch, sondern der Freitag sein, der Tag, an dem der Kanzler beim EU-Gipfel in Budapest wäre. So hätte man «die Deutungshoheit, der Kanzler könne aus dem Ausland schlecht kommunizieren», gibt die «Zeit» den Plan der FDP wieder.

Scholz kam dem schliesslich mit der Entlassung Lindners am 6. November zuvor. Danach war Lindners Schauspielkunst gefragt.