Übersicht zum EU-GipfelAm Ende der Ära Merkel brechen alte Konflikte auf
Migration und Atomkraft spalten die EU-Mitgliedsstaaten. Auch beim Umgang mit autoritären Entwicklungen in Polen und Ungarn herrscht Uneinigkeit. Die Übersicht.
Zum Abschied gab es überschwängliche Worte: «Du bist ein Monument», diese Worte richtete EU-Ratspräsident Charles Michel beim voraussichtlich letzten Gipfeldinner der deutschen Bundeskanzlerin an die Adresse von Angela Merkel. Ein Gipfel ohne Merkel sei wie «Rom ohne Vatikan oder Paris ohne Eiffelturm». Ob die Gipfelveteranin vom Vergleich angetan war, ist nicht bekannt.
Nicht gefallen kann der Bundeskanzlerin, dass sie nach genau 107 Gipfeln eine EU hinterlässt, die so fragmentiert und gespalten ist wie schon lange nicht mehr. So haben sich beim Treffen alte und neue Gräben aufgetan, so beim Umgang mit der Migration, mit den explodierenden Energiepreisen sowie mit Blick auf autoritäre Entwicklungen in Polen.
Mauern gegen Migranten
Lange war das polarisierende Thema wie ausgeblendet. Doch seit der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko gezielt Flüchtlinge an die Grenzen zu Polen und Litauen transportieren lässt, ist die Migrationsfrage wieder zurück auf dem Tisch der Staats- und Regierungschefs. Einigkeit gibt es zwar darüber, wie das Vorgehen des Machthabers in Minsk zu beurteilen ist. Die EU werde keine Versuche von Drittländern akzeptieren, Migranten für politische Zwecke zu instrumentalisieren, heisst es in der Gipfelerklärung.
Doch was tun, um den «hybriden Angriff» und «staatlichen Menschenhandel» zu stoppen? Das Regime in Minsk lässt Asylsuchende unter anderem aus Bagdad einfliegen und dann an die EU-Aussengrenze transportieren. Polnische Sicherheitskräfte hindern Migranten mit Gewalt am Grenzübertritt und die weissrussische Polizei lässt sie nicht mehr zurück. Mindestens acht Migranten sollen im Niemandsland zwischen EU und Weissrussland schon gestorben sein.
Österreichs neuer Bundeskanzler Alexander Schallenberg bekräftigte die Forderung von zwölf EU-Staaten, Drohnen und «physische Barrieren» an den Aussengrenzen aus europäischen Mitteln mitzufinanzieren. Er würde sich schämen, wenn es einmal Grenzzäune mit der Aufschrift «finanziert von der EU» geben würde, entgegnete der Luxemburger Xavier Bettel. Alle Massnahmen müssten im Einklang mit den Menschenrechten stehen.
Explodierende Energiepreise
Der Winter steht vor der Tür und ausgerechnet jetzt explodieren die Preise für Strom und Gas. Die Staats- und Regierungschefs der EU waren sich am Gipfel uneinig, wie sie damit umgehen wollen. Frankreich, Spanien und Italien liefen mit der Forderung auf, zum Beispiel gemeinsame Gasreserven anzulegen oder Energie künftig gemeinsam einzukaufen, um die Preise drücken zu können. Auch der Vorschlag, Strom- und Gaspreise zu entkoppeln, fand keine Unterstützung.
Brisant ist, dass die steigenden Energiepreise die Pläne der EU im Kampf gegen den Klimawandel gefährden könnten. Länder wie Polen und Tschechien sehen das Problem beim Emissionshandel der EU. Spekulation auf steigende CO₂-Preise sei mitverantwortlich für den Preisanstieg. Stromanbieter müssen für den Ausstoss von Treibhausgasen zahlen. Alte Gräben riss auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit seinem Vorstoss auf, Atomenergie als klimaneutrale Energiequelle einzustufen und mit EU-Geldern zu fördern. Ein absolutes Tabu für Länder wie Österreich.
Angela Merkel plädierte für «marktwirtschaftliche Lösungen». Dabei sorgt auch eine Hinterlassenschaft der Bundeskanzlerin für Spannungen. Die Gaspipeline Nord Stream 2 könnte zwar bald in Betrieb gehen und die Gasknappheit lindern, würde aber die Abhängigkeit von Russland weiter zementieren. Kurzfristig kann die EU gegen die Preisexplosion ohnehin nicht viel machen. Die Mitgliedsstaaten sollen jetzt Haushalte mit niedrigem Einkommen mit Gutschriften entlasten. Den Ursachen für den Preisanstieg will man am nächsten Gipfel genauer auf den Grund gehen.
Polen schafft den Rechtsstaat ab
Immerhin ist die Diskussion um Polen und den Abbau des Rechtsstaates gesitteter verlaufen, als im Vorfeld erwartet wurde. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki konnte allerdings nur auf die Unterstützung von Viktor Orban zählen. Die Wahrheit stehe auf der Seite Polens, sagte Ungarns Ministerpräsident und sprach von einer «Hexenjagd» gegen das Land.
Alle anderen in der Runde äusserten sich besorgt über die Entwicklung. Polens rechtsnationale Regierung ist dabei, die Justiz des Landes unter ihre politische Kontrolle zu bringen, und will in Zukunft Ordnungsrufe des Europäischen Gerichtshofes ignorieren. Einer Lösung sind die Staats- und Regierungschefs nicht nähergekommen. Die Rechtsstaatlichkeit sei der Kern der EU, sagte Angela Merkel: «Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen.»
Auch auf ihrem letzten Gipfel versuchte die Bundeskanzlerin, einen scheinbar unlösbaren Konflikt «wegzumoderieren». Die Staats- und Regierungschefs sind jedenfalls froh, das explosive Dossier der Kommission zu überlassen, die nächstens über Geldkürzungen für Polen entscheiden muss.
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