Weissrussland schickt Migranten in die EUAn Polens Grenze sterben Flüchtlinge
Polen hindert Migranten mit zweifelhaften Methoden an der Einreise. Helfer und Beobachter bleiben ausgesperrt. Und die Regierung verbreitet Schauermärchen.
Es waren auf den ersten Blick schockierende Erkenntnisse, mit denen Polens Innenminister Mariusz Kaminski und Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak für die Verlängerung des Ausnahmezustands an der Grenze zu Weissrusslands warben. Polen verfolgt dort eine harte Linie gegenüber Flüchtlingen. «Kompetente Behörden» hätten mehrere Hundert nach Polen gelangte Flüchtlinge überprüft: Jeder vierte habe offenbar «eine kriminelle Vergangenheit, einschliesslich Verbindungen zu Terrorgruppen».
Andere hätten sich des Kindesmissbrauchs oder Sex mit Tieren schuldig gemacht. Zum Beweis präsentierte Kaminski Material, das angeblich von Mobiltelefonen der Flüchtlinge stammte. Die gezeigten Fotos und Videoausschnitte liessen einen erschaudern: Zu sehen war die Hinrichtung von Geiseln, Fotos nackter Kleinkinder oder Sex mit einer Kuh.
Kaminskis Fazit: Viele der aus Weissrussland über die Grenze nach Polen gekommenen Flüchtlinge seien «eine ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit». Polens öffentlich-rechtliches Fernsehen TVP, seit 2016 Propagandasender der Regierenden, zeigte das angebliche Belastungsmaterial an mehreren Tagen.
«Nach einem solchen Zwischenfall treten in einem demokratischen Land Minister zurück.»
Das zuerst bei einer Pressekonferenz am Montag und dann in den verschiedenen regierungsnahen Medien gezeigte Material hat allerdings grundlegende Mängel: Es kursiert seit Jahren im Internet – und hat nichts mit den Flüchtlingen zu tun, auf deren Handys es angeblich gefunden wurde. Das wies der angesehene Informationsdienst Oko.press nach. Er konnte für die einzelnen Bilder und Videos detailliert zeigen, woher sie eigentlich stammten.
Das Aufdecken dieser offenbar manipulativen Präsentation löste Empörung aus. «Eine schändliche Pressekonferenz. Es wurden Fake News verwendet, um die Bürger zu erschrecken. Nach einem solchen Zwischenfall treten in einem demokratischen Land Minister von selbst zurück», schimpfte der linke Parlamentarier Andrzej Rozenek. Auf dem Land lebende Polen, die ihre Informationen oft nur aus TVP beziehen, werden davon jedoch kaum etwas erfahren. Neuen Umfragen zufolge ist die zuvor gesunkene Beliebtheit der Regierung seit Beginn der Flüchtlingskrise und den Warnungen vor einer angeblichen Gefahr für Polens Sicherheit wieder gestiegen.
Ausnahmezustand für weitere 60 Tage
Fast zwei Monate ist es her, dass die Zahl der aus Weissrussland über die grüne Grenze kommenden Migranten steigt. Ob dies nur Hunderte oder Tausende sind, ist öffentlich nicht bekannt. Zwar nennt Polen Tausende angebliche Versuche illegaler Grenzübertritte monatlich. Tatsächlich aber sind diese Zahlen nicht geprüft. Zudem zählen die Grenzer offenbar mehrfach: In Polen aufgegriffene Flüchtlinge werden in – nach internationalem Recht illegalen – Pushbacks über die Grenze nach Weissrussland zurückgeschickt, ohne einen Asylantrag stellen zu können. Anschliessend versuchen sie sofort wieder, ins Land zu gelangen. Bürgerrechtsgruppen berichten über Flüchtlinge, die Dutzende solcher Versuche hinter sich hatten.
Was im Grenzgebiet tatsächlich passiert, wissen nur die Behörden. Nachdem Polens Präsident Anfang September für das Grenzgebiet den Ausnahmezustand für 30 Tage ausgerufen hat, sind die letzten Kilometer bis zur Grenze für Aussenstehende gesperrt – Kritikern zufolge in erster Linie, um Journalisten und Bürgerrechtler fernzuhalten. Die Regierung will den Ausnahmezustand jetzt um weitere 60 Tage verlängern.
Spätestens seit September sterben dort auch Menschen. Der Grenzschutz gab am 19. September bekannt, er habe an verschiedenen Stellen im Grenzgebiet drei tote Flüchtlinge gefunden, bei den Dörfern Dworczysko, Fracki und Zubry. Weissrussland meldete am gleichen Tag einen toten Flüchtling auf seiner Seite. Seit letzter Woche kamen zwei weitere Opfer hinzu. Die Flüchtlinge sterben an Erschöpfung und Unterkühlung, nachts liegen die Temperaturen kaum über dem Gefrierpunkt.
Die Dramen an der Grenze sind möglich, weil der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko offenbar unter russischer Mithilfe seit Monaten einen schwunghaften Handel mit Migranten aus aller Welt betreibt und sie an die grüne Grenze zu Polen bringen lässt. Das Magazin «Polityka» sprach mit Migranten aus Sri Lanka und Nigeria, die nach Moskau oder Minsk geflogen waren und weiter an die Grenze zu Polen gebracht wurden. Sie berichteten, weissrussische Beamte hätten mehrere Tausend Flüchtlinge und Migranten in ein Lager in Grenznähe gebracht.
Polen hat die Flüchtlinge wohl nicht versorgt
Seit dem 8. August stecken an der Grenze beim Dorf Usnarz Gorny 32 afghanische Flüchtlinge fest. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wies Polen bereits am 25. August an, die Flüchtlinge mit Nahrung und Wasser, Kleidung, Zelten und auch medizinisch zu versorgen. Geschehen ist dies offenbar nicht. Am Montag entschied der EGMR, Polen müsse ausserdem unverzüglich die polnischen Anwälte der Afghanen zu ihnen lassen. Doch die wurden am Dienstag von Grenzschutz und Polizei daran gehindert.
Die Europäische Union versucht bislang vergeblich, Einfluss zu nehmen. Innenkommissarin Ylva Johansson forderte die polnische Regierung mehrmals auf, die Grundrechte der Migranten zu achten und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex Zugang zum Grenzgebiet zu gewähren. Schliesslich handle es sich um eine EU-Aussengrenze. Tagelang bat sie Innenminister Kaminski vergeblich um ein persönliches Gespräch. Am Donnerstagabend wollten sich die beiden am Warschauer Flughafen treffen. Auf EU-Seite war die Hoffnung auf ein Entgegenkommen der polnischen Regierung jedoch nicht gross.
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