Über AHV-Panne gestolpertErst der Milliardenfehler, dann das Schweigen – doch der Chefbeamte fällt weich
Stéphane Rossini vom Bundesamt für Sozialversicherungen tritt zurück – darf aber noch acht Monate bleiben. Über die undurchschaubare Rücktrittskultur bei Berner Chefposten.
- Das Bundesamt für Sozialversicherungen machte bei AHV-Prognosen schwere Rechenfehler.
- Die zuständige Bundesrätin wurde darüber erst verzögert informiert.
- Nun ist Amtschef Stéphane Rossini nach öffentlicher Kritik und Druck zurückgetreten.
- Die Kommunikationsmängel untergraben das Vertrauen in die Amtsleitung.
Die Anrufe müssen zu den unangenehmeren Momenten in Elisabeth Baume-Schneiders Politkarriere gehört haben. Es ist die Zeit der Sommerferien 2024, Bundesbern ist ausgestorben, als die SP-Sozialministerin zum Telefon greift, um Bundespräsidentin Viola Amherd und Finanzministerin Karin Keller-Sutter persönlich über einen fatalen Fehler zu orientieren: Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat die Finanzaussichten der AHV falsch berechnet.
Je nach Zeithorizont liegen die Prognosen um mehrere Milliarden Franken daneben. Die AHV steht besser da als erwartet. Grund sind fehlerhafte Formeln in mathematischen Modellen, welche die Zukunft des wichtigsten Schweizer Sozialwerks vorhersagen. Damit waren zentrale AHV-Annahmen falsch, über welche die Politik und das Stimmvolk in den letzten Jahren diskutiert haben.
Der Fehler ist amtsintern schon länger bekannt. Erste Anzeichen gab es bereits Mitte Mai. Die Amtsspitze um Direktor Stéphane Rossini hat das Baume-Schneider aber bis Mitte Juli nicht mitgeteilt. Das Amt hat noch vor der internen Information zwei externe Analysen in Auftrag gegeben, um neue interne AHV-Szenarien zu validieren.
Externe wussten Bescheid – vor der Bundesrätin
Externe Fachleute haben also noch vor der zuständigen Bundesrätin und der Gesamtregierung über die Problematik Bescheid gewusst.
Und noch etwas kommt hinzu: Wegen des Rechenfehlers hat der Bundesrat am 22. Mai eine Vorlage zur Umsetzung der 13. AHV-Rente in die Vernehmlassung geschickt, die auf falschen Zahlen basierte.
Das Amt verteidigt sich damit, dass die Grössenordnung der Abweichung lange nicht klar gewesen sei. Was nichts an der herrschenden Meinung in Bundesbern ändert. Die lautet: eine Peinlichkeit sondergleichen.
Wie konnte Amtschef Rossini das übersehen?
Hinter den Kulissen sind Politprofis ratlos. Wie konnte Amtschef Rossini die politische Brisanz der Prognosen übersehen? Ein Mann, der selbst 16 Jahre lang für die SP im Nationalrat sass und die Mechanismen in- und auswendig kennt?
Nach den Telefonaten mit den Bundesratskolleginnen müssen Baume-Schneider und ihr Beraterstab abwägen: Was nun?
Die Bundesrätin ordnet eine Administrativuntersuchung an, um die Vorgänge im Amt und die Verantwortlichkeiten aufzuklären. Diese soll bis Ende Jahr vorliegen. Parallel dazu wird ein Medientermin angesetzt, an dem Rossini und sein Stellvertreter die Fehler offenlegen müssen. Die Korrekturen der Zahlen laufen bereits.
Die Bundesrätin ihrerseits bleibt der Pressekonferenz am 6. August in Bern fern. Die kritischen Fragen der Medien prasseln auf Rossini und seinen Stellvertreter ein. Baume-Schneider distanziert sich sechs Tage später in einem Radiointerview von ihrem Amtschef: «Wenn es notwendig ist, muss man Verantwortung übernehmen», sagt sie auf die Frage nach möglichen Entlassungen.
Der Druck steigt
Nach der Pressekonferenz geht eine Welle der Empörung durch das Land. Und die Gerichte werden eingeschaltet. Die Grünen fechten die Abstimmung zur Erhöhung des Frauenrentenalters von 2022 an. Die Debatte zur Vorlage war durch die falschen Zahlen ebenfalls verfälscht worden.
Während die Verfahren laufen, erhöht sich der Druck auf Rossini. Wird er versuchen, sich zu halten, trotz des impliziten Vertrauensentzugs durch die Chefin? Diesen Dienstag wird klar: Nein. Rossini trete zurück, meldet die NZZ. Er wolle sich «neuen beruflichen Tätigkeiten» widmen, heisst es in der Pressemitteilung tags darauf.
Der 61-Jährige fällt weich. Er bleibt noch acht Monate im Amt, bis Ende Juni 2025. Und Elisabeth Baume-Schneider gibt ihrem SP-Parteikollegen ein Abschiedslob mit: Rossini habe «wichtige Reformen realisiert» und mit seiner Arbeit einen «grossen Beitrag» zur Sicherung der Sozialwerke geleistet.
Die Art und Weise der Trennung ist typisch für Berner Chefbeamte: viele Monate Austrittsfrist, wenig ehrliche Kommunikation. Konflikte werden offiziell heruntergespielt oder ganz totgeschwiegen. Stattdessen gibt es freundliche Worte auf den Weg.
Bekannte Fälle sind Christine Schraner Burgener, die als Chefin des Staatssekretariats für Migration im Mai 2024 unter Druck abtrat, aber noch bis Ende Jahr im Amt bleibt. Oder Fedpol-Chefin Nicoletta Della Valle, die im April 2024 ihren Posten per Ende Januar 2025 niederlegte – und obendrauf eine Abgangsentschädigung von 340’000 Franken erhielt, wie der «SonntagsBlick» publik machte.
«Einen Fehler einzugestehen, ist wenig populär»
In der Schweiz gebe es keine gut entwickelte Fehlerkultur, kritisiert Dominik Schaller. Der langjährige Headhunter leitet das Schweizer Büro der Unternehmens- und Personalberatung Egon Zehnder, er hat schon viele Spitzenkräfte bei Personalwechseln beraten. «Hinstehen und einen Fehler eingestehen, wie das zum Beispiel US-Firmen offensiv einfordern, ist bei uns noch immer wenig populär.»
Für ihn liegt im Fall der falschen AHV-Zahlen das Problem nicht in den fehlerhaften Formeln – «Fehler dürfen passieren». Das Problem sei, dass durch fehlende Kommunikation das Vertrauen in die Amtsleitung untergraben worden sei. «Und wenn das Vertrauen weg ist, dann wird es ganz schwierig.»
Gleichzeitig hat Schaller Verständnis dafür, dass der Bund Stéphane Rossinis Abgang zurückhaltend kommunizierte. «Meine Faustregel in solchen Situationen ist: pragmatisch sein.» Gegen aussen könne etwa eine lange Übergangszeit befremdend wirken, aber letztlich komme es darauf an, wie die Lage in einer Krise intern aussehe. Ist die Zusammenarbeit mit der abtretenden Person weiter möglich? Gäbe es überhaupt jemanden, der das Steuer ersatzweise übernehmen könnte? Wie lange dauert die Rekrutierung der Nachfolge?
Auf Spitzenstufe seien Kündigungsfristen von sechs bis zwölf Monaten normal, diese Zeit müsse man für eine Rekrutierung einplanen, sagt Schaller. «Am Ende ist es im Interesse der Steuerzahler, dass ein Amt funktioniert – auch wenn die Öffentlichkeit die Übernahme von Verantwortung einfordert.»
«Das ist Günstlingswirtschaft»
Im Parlament klingt es ganz ähnlich. «Wenn jemand toxisch wäre, müsste man ihn freistellen», findet FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt. Aber im Fall von Stéphane Rossini sei das erstens nicht das Thema, und zweitens sei vor allem eine geordnete Übergabe gefragt, zumal das AHV-Dossier in den nächsten Monaten ein zentrales Thema bleibe.
Was nicht heisst, dass nach Rossinis Abgang auf bürgerlicher Seite keine Kritik aufkommt. Aber die zielt in eine andere Richtung. «Das war ursprünglich eine politische Besetzung, keine fachliche», so SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Der Hintergrund: SP-Bundesrat Alain Berset hatte SP-Mann Rossini 2019 ins Amt gehoben. «Das ist Günstlingswirtschaft», findet Aeschi. «An erster Stelle sollte nicht die politische Ausrichtung, sondern die fachliche Kompetenz stehen.» Von linker Seite verspürt man am Mittwoch wenig Lust, Rossini zu verteidigen. Mehrere Anfragen laufen ins Leere.
Die selbstbewussten Spezialisten
Wie Stéphane Rossini selbst seine Amtszeit und seinen Rücktritt sieht, bleibt offen. Er antwortet am Mittwoch nicht auf Kontaktversuche.
Gespräche mit Angestellten der Bundesverwaltung und Sozialversicherungsexperten münden mehrfach in derselben These: Die Fachleute des Bundesamts für Sozialversicherung hätten eine sehr hohe Fachkompetenz – und entsprechend ein hohes Selbstbewusstsein. Gleichzeitig könne den Mathematikern und Statistikern das Gespür für die politische Dimension ihrer Arbeit abgehen. Eine Quelle sagt es so: «Da muss man von politischer Seite mit- und dagegenhalten. Und das ist schwierig.»
Womöglich ist Politologe Stéphane Rossini auch daran gescheitert.
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