Mehrwertsteuer oder LohnprozenteDie SP weiss genau, wie sie die 13. AHV-Rente finanzieren will. Jetzt widerspricht eine Koryphäe
Für die Partei ist klar: Die Mehrwertsteuer ist unsozial. Allerdings sieht das die Wissenschaft teilweise anders. Ebenso SP-Urgestein Rudolf Strahm.
- Der Ständerat spricht sich am Mittwoch für die Einführung der 13. AHV-Rente ab 2026 aus.
- Aber die Finanzierung dieser Rente ist politisch sehr umstritten.
- Rudolf Strahm unterstützt eine Mehrwertsteuererhöhung für die Finanzierung.
- Eine Volksabstimmung zur Mehrwertsteuererhöhung wäre obligatorisch.
Diesen Mittwochmorgen entscheidet der Ständerat, dass die 13. AHV-Rente ab 2026 ausbezahlt wird – einmal jährlich, jeweils auf einen Schlag zum Schluss des Jahres. Im ersten Jahr betragen die Kosten 4,2 Milliarden Franken, in den Folgejahren wird der Betrag zunehmen.
Wann die Rente kommt, ist allerdings das Einzige, was in dieser Sache klar ist. Alles andere wird die Schweizer Politik in Atem halten. Sollen sich die Pensionierten an der Finanzierung beteiligen? Wird die 13. Rente damit verknüpft, dass der Bund vielleicht bald auch höhere Ehepaarrenten finanzieren muss? Die entsprechende Initiative der Mitte-Partei hat vor dem Volk gute Chancen.
Oder läuft alles auf den grossen Wurf hinaus, mit dem Vorsorgeministerin Elisabeth Baume-Schneider die Finanzierung der ersten Säule ab 2026 neu ausrichten wird? Als Nächstes muss diese Fragen die zuständige Kommission des Ständerats beantworten. Sie wird sich Anfang nächsten Jahres wieder damit beschäftigen.
SVP und FDP wollen aktuell weder Lohnabzüge noch Mehrwertsteuer
Ausgerechnet in der Partei, die wie keine andere auf die 13. Rente hingearbeitet hat, kommt es in dieser Frage jetzt zum Konflikt. Während des Abstimmungskampfs zu Beginn des Jahres sprach sich die SP für eine Finanzierung des Rentenzuschlags über zusätzliche Lohnprozente aus, die hälftig vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen würden. Diese bezahlen auch Millionen-Bezüger, während die AHV-Rente bei aktuell 2450 Franken pro Monat gedeckelt ist. Damit finanzierten Vielverdiener die Renten der anderen, so die SP.
Mit Rudolf Strahm, langjähriger SP-Nationalrat und danach Preisüberwacher des Bundes, widerspricht jetzt ein Parteigrande. «Das Dogma der Gerechtigkeit von Lohnabzügen besteht bei der SP seit Jahrzehnten», sagt er. «Das macht es nicht richtiger.»
Strahm spricht sich für eine Finanzierung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer aus. Er unterstützt damit den Bundesrat. Dieser hatte im Sommer vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte auf 8,8 Prozent zu erhöhen. Als einzige Bundesratspartei hält die Mitte das für eine gute Idee. SVP und FDP sind dagegen, wollen aber auch keine Lohnabzüge, weil beide Varianten die Kosten für den Mittelstand und die KMU erhöhen würden.
Die Reichsten erhalten Einkommen nicht als Lohn
Die SP lehnt eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ab, weil dadurch tiefere Einkommensschichten benachteiligt würden. Die Mehrwertsteuer wird auf Konsumausgaben fällig. Auch SVP-Nationalrat Gregor Rutz findet dies ungerecht. Er sagte vor wenigen Wochen zu «20 Minuten»: «Die Mehrwertsteuer ist die unsozialste Steuer, die es gibt.»
Strahm hält mit verschiedenen Argumenten dagegen. Zum Beispiel, dass sich alle an der Mehrwertsteuer beteiligen. Lohnprozente treffen dagegen weder die Pensionierten noch viele Superreiche, die vor allem von ihren Investments leben, also zum Beispiel den Dividenden.
Strahms zweiter Punkt ist umstrittener: Dass die Mehrwertsteuer die Ärmeren stärker als die Reichen belaste, wie es die SP behaupte, stimme nicht.
Zumindest in einem Aspekt gibt es keine zwei Meinungen. Absolut gesehen, also in Franken und Rappen, steigt die Belastung durch die Mehrwertsteuer mit dem Haushaltseinkommen. Die Frage ist, ob die Steuer die verschiedenen Einkommensklassen auch proportional fair belastet.
Es besteht grundsätzliche Einigkeit darüber, dass proportional nicht weniger bezahlen sollte, wer mehr hat: Das nämlich wäre eine sogenannt degressive Belastung. Dem widerspricht jener Artikel in der Bundesverfassung, der eine «Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit» vorgibt.
Im Grundsatz müssen Reiche darum im Verhältnis zu Einkommen oder Vermögen mindestens gleich stark belastet werden wie der Rest. In den meisten Kantonen gilt gar eine progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen, dass Reiche also auch proportional mehr zahlen. Auch die direkte Bundessteuer ist stark progressiv ausgestaltet.
Ob die Mehrwertsteuer progressiv ist, hängt von der Perspektive ab. Vergleicht man sie mit dem Bruttoeinkommen eines Haushalts, wirkt sie degressiv. Der Bundesrat hat im Oktober folgende Zahlen publiziert: Würde sein Vorschlag einer Erhöhung der Steuer um 0,7 Punkte realisiert, würde die Belastung für Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 55’000 Franken im Schnitt um 160 Franken steigen. Das wären 0,4 Prozent ihres Einkommens. Der Wert sinkt, je höher das Einkommen ist. Bei Haushalten mit einem Einkommen von über 200’000 Franken wären es noch gut 0,25 Prozent.
Setzt man dagegen die Mehrausgaben ins Verhältnis zu den Konsumausgaben eines Haushaltes, erhält man das gegenteilige Ergebnis, also eine stark progressive Wirkung. Der Grund dafür liegt darin, dass ein grosser Teil des Warenkorbs in der Schweiz nicht der vollen Mehrwertsteuerbelastung unterliegt. Auf Mieten, Versicherungen inklusive Krankenkassenprämien oder Freizeitangebote wird überhaupt keine Mehrwertsteuer fällig. Güter des täglichen Gebrauchs werden mit einem reduzierten Satz von 2,6 Prozent besteuert.
In den tieferen Einkommensschichten unterliegt damit der allergrösste Teil der Ausgaben einer reduzierten Mehrwertsteuer beziehungsweise überhaupt keiner. Wohlhabende Personen konsumieren dagegen zusätzlich viele Produkte, für die die volle Mehrwertsteuer gilt.
Mittlerweile dürfte die progressive Wirkung der Mehrwertsteuer zudem ausgeprägter sein als vorgerechnet: Die vorliegenden Daten stammen aus den Jahren 2018 und 2019. Seit der Pandemie sind aber unter anderem die Ausgaben für die Wohnungsmiete stärker gestiegen als für andere Güter.
Beschliesst Parlament Erhöhung der Mehrwertsteuer, kommt es zum Referendum
Welcher Vergleich ist also der richtige, jener mit dem Einkommen oder den Konsumausgaben? Für Marco Salvi, Ökonom bei der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, ist der Fall klar. «Der Anteil der Steuer am Bruttoeinkommen stellt kein gutes Mass für die tatsächliche Belastung der Haushalte dar. Die höheren Einkommen weisen eine tiefere Quote aus, weil sie mehr sparen», schrieb er 2015 in einer Publikation zum Thema.
«Damit entgehen sie aber nur vorläufig der Konsumbesteuerung. Früher oder später wird auch das Gesparte konsumiert und somit steuerlich erfasst», schrieb Salvi weiter. «Deshalb ist es sinnvoll, die Steuerbelastung ins Verhältnis zu den Konsumausgaben zu setzen.» Aus Sicht des liberalen Ökonomen steigt die relative Belastung durch die Mehrwertsteuer also mit dem Einkommen. Der Verfassungsauftrag, nach «wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit» zu besteuern, wäre damit erfüllt.
Die Wissenschaft ist sich hingegen in dieser Frage nicht einig. Einerseits spreche die hohe Vererbungsquote gegen das Argument, dass Erspartes nur aufgeschobener Konsum sei. Andererseits werde dieses, selbst wenn die Initiative der Jungsozialisten für eine Erbschaftssteuer keine Chance haben dürfte, durch eine Vermögenssteuer jedes Jahr aufs Neue besteuert.
All das klingt nach Elfenbeinturm, könnte jedoch bald auch in der breiten Bevölkerung zum Thema werden. Beschliesst auch das Parlament eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, kommt es zum obligatorischen Referendum, da dafür eine Verfassungsänderung nötig wäre. Für einen Erfolg wäre damit neben dem Volks- auch das Ständemehr zwingend.
Korrektur: In einer ersten Version dieses Artikels stand, Top-Manager würden zu grossen Teilen in Aktienpaketen bezahlt, auf die keine Lohnabzüge fällig seien. Damit würden sie sich teilweise nicht an der Finanzierung der 13. AHV-Rente beteiligen, wenn die Option Lohnabzüge gewählt würde. Das stimmt so jedoch nicht: Auch Aktienpakete sind sozialversicherungspflichtig.
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