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Meinung

Würdigung zu Kafkas 100. Todestag
Alles, was ich für sicher oder wichtig hielt, kam ins Rutschen

(Eingeschränkte Rechte für bestimmte redaktionelle Kunden in Deutschland. Limited rights for specific editorial clients in Germany.) Franz KAFKA - Portrait, October 1923 (Photo by ullstein bild/ullstein bild via Getty Images)
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Bei Franz Kafka bleibt das Geschehen, und sei es noch so überschaubar, stets mehrdeutig. Diese Offenheit seiner Romane und Erzählungen hat Interpreten aus allen möglichen ideengeschichtlichen Lagern auf den Plan gerufen: Neben religiösen Auslegungen, wie sie vor allem Kafkas Freund und Förderer Max Brod präsentierte, gibt es psychoanalytische, politische und philosophische Deutungen.

Die Tatsache, dass der Prozess der Ausdeutung und Erklärung keinen Abschluss findet, ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb mich Kafka (1883–1924) fesselt. Mein ganzes Leben habe ich mich mit den drei Romanen Kafkas «Der Prozess», «Das Schloss» und «Der Verschollene» beschäftigt und auch mit seinen Erzählungen. Mein Interesse ist psychologisch motiviert und philosophisch grundiert: Ich kenne keinen anderen Autor, der die existenzielle Obdachlosigkeit des Daseins literarisch so nüchtern und gnadenlos darstellt wie er.

Stets von neuem zieht mich das Werk in seinen Bann: Kann ich dieses Mal die Rätsel lösen, die mein Lieblingsroman «Das Schloss» stellt? Komme ich dem geheimnisvollen Protagonisten K., dem als Fremdem der Zugang zur Dorfgemeinschaft verwehrt bleibt, nun einen Schritt näher?

Alles kam ins Rutschen

Ein Buch soll eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns, hat Kafka einmal geschrieben. Seine eiskalte und dennoch glühend heisse Sprache legt nichts fest, sondern Verschüttetes frei – auch bei mir: Wie ich geworden wäre ohne die Lektüre von Kafkas Werk, weiss ich nicht; ich weiss bloss, dass es mein Leben entscheidend geprägt und verändert hat.

Als ich mit 15 Jahren angefangen habe, Kafka zu lesen, kam dies einem Erdbeben gleich: Alles, was ich für sicher oder wichtig hielt, kam ins Rutschen. Die kleine, dörfliche Welt, in der ich gelebt hatte, stürzte ein und machte einem Universum voller Ungewissheiten Platz.

Auf einmal sah ich mich mit Welten konfrontiert, die meinen engen Horizont überstiegen – und einer Sprache gegenüber, deren Schlichtheit und Eleganz mich beglückte. Alles schien mir dringend und drängend, nichts beliebig oder beiläufig. Beim Lesen der Texte spürte ich Kafkas kompromissloses Selbstverständnis: «Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.»

Das Scheinbare ist nur scheinbar

Auch in kurzen Texten steckt der ganze Kafka. Nehmen wir beispielsweise «Die Bäume», vier Sätze bloss, die er in seine Textsammlung «Betrachtung» aufnahm und 1908 veröffentlichte:

«Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoss sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.»

Was jetzt? Auch wenn die Sätze und der Satzbau denkbar einfach sind, ist die Aussage ambivalent und in sich widersprüchlich. So muss man, kaum hat man «Die Bäume» gelesen, wieder von vorne anfangen und sich fragen, was denn nun gilt. Dass es dabei nicht klarer oder gar eindeutig wird, hat mit der Wiederholung des Wörtchens «scheinbar» zu tun: Es stellt das in Frage, was zuvor festgestellt wurde, und auf einmal wankt der Boden, auf dem wir sicher zu gehen glaubten. Theodor W. Adorno bemerkte zu Recht: «Jeder Satz spricht: Deute mich, und keiner will es dulden.»

Der Sprache misstrauen

Franz Kafka war ein Meister des Nebulösen und Unfassbaren. Da die Sprache Wirklichkeit nicht eins zu eins abbilden kann, muss sie sich darauf beschränken, sie in Annäherungen und Andeutungen zu beschreiben. Deshalb zweifelte Kafka an der Macht der Sprache, aber er verzweifelte nicht an ihr wie Heinrich von Kleist, als er nach der Lektüre von Kants erkenntnistheoretischen Schriften in eine Lebenskrise stürzte. Auch wenn Kleist Schachtelsätze vorzog, Kafka hingegen seine Sätze bis aufs Skelett abmagerte, so waren sie doch Geistes- und Seelenverwandte: Sie vertrauten dem Weltbezug und Weltgehalt der Sprache in grundsätzlicher Weise nicht.

Liegt dies daran, dass Franz Kafka nicht zum literarischen Zentrum gehörte, sondern an der deutschen Sprachperipherie in Prag lebte – ähnlich wie der von ihm geschätzte Robert Walser in Biel? Da sein Genie nur von einigen wenigen Kennern erkannt wurde, war es für Kafka unmöglich, ja undenkbar, vom Schreiben leben zu können. Der promovierte Jurist, der wesentlich zur Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen bei Industriemaschinen beitrug, blieb auf seine ungeliebte Büroarbeit bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen angewiesen – und damit gebunden an Prag, «dieses Mütterchen mit Krallen».

Auch heute noch fasziniert mich, wie Kafkas schlanke, klare Sprache schon nach wenigen Sätzen in unwegsames Gelände führt. Das Bedeutungslabyrinth, in dem ich mich dann verwundert wiederfinde, hat bei genauerer Betrachtung mit unserer Existenz selbst zu tun, wie «Der Kreisel», eine andere Kurzgeschichte, zeigt: Wir schauen einem Philosophen zu, wie er einen sich drehenden Kreisel zu fangen versucht.

Während die spielenden Kinder kreischen, scheint es, als ob nicht nur der Kreisel, sondern auch der Philosoph sich um seine eigene Achse drehe. Vor lauter Selbstbezüglichkeit schwindelt uns beim Lesen, und wir spüren, dass auch wir selbst eine Art Kreisel sind: Selbstreflexion ist eine Bewegung um sich selbst.

Unbekannter Weltautor

Da er um sein Leben schrieb, versteht es sich von selbst, dass auch die Tagebücher und Briefe seine Zerrissenheit spiegeln. Sein Problem etwa, sich an seine Freundin Felice Bauer zu binden, bringt er in einem Satz auf den Punkt: «Ohne sie kann ich nicht leben und mit ihr auch nicht.» Oder als es ans Sterben geht und Kafka die Schmerzen seiner Kehlkopftuberkulose nicht mehr aushält, bittet er seinen Freund Robert Klopstock, ihm die Spritze mit dem Morphium zu geben: «Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.»

Begleitet von seiner letzten Freundin Dora Diamant und seinem Freund Klopstock, stirbt Franz Kafka am 3. Juni 1924, fast unbekannt, im Sanatorium Kierling in der Nähe von Wien. Es dauert lange, bis er als bedeutender Autor anerkannt wird. Heute ist Kafka der am meisten gelesene und zitierte Schriftsteller deutscher Sprache: ein Weltautor, der nach wie vor jungen Menschen in abgelegenen Provinzen Welten eröffnet.