Daniel Kehlmann im Interview «Kafka-Sätze kann man nicht erfinden»
Der Schriftsteller hat das Drehbuch zu einer TV-Serie über das Leben Franz Kafkas geschrieben. Ein Gespräch über eines der wirkmächtigsten Werke der Weltliteratur.
Herr Kehlmann, Sie haben das Drehbuch für eine sechsteilige TV-Serie über das Leben von Franz Kafka geschrieben. Für viele ist dieser Autor ein einziges Rätsel. Verstehen Sie Kafka?
Ich glaube, ich verstehe, was er sagen wollte, ich verstehe seine Motivationen und Antriebe, ich verstehe oft im Einzelnen seine Sätze nicht ganz. Es gibt in den Tagebüchern Stellen, die mir vollkommen verschlossen sind, und er hat eine Form, Metaphern zu verwenden, die manchmal ganz schwer nachzuvollziehen ist, aber wenn man sie versteht, sind sie dann völlig schlüssig. Kafkas Metaphernfindungen sind so überraschend, dass man sie nicht antizipieren oder simulieren kann. Deshalb war es das Schwerste an der ganzen Serie, Kafka sprechen zu lassen. Man kann Kafka-Sätze nicht erfinden, und deshalb sind es, wenn Joel Basman, der Kafka spielt, spricht, sehr häufig echte Kafka-Zitate.
Versteht man Kafka besser, wenn man seine Biografie kennt?
Es hilft immer, den Kontext zu kennen. Zur Biografie gehören eben nicht nur der Vater, die Schwestern, sondern auch dieser wunderbare Kreis jüdischer Intellektueller, in dem Kafka tief verwurzelt war. Und ausserdem ist in seinem Fall der Zusammenhang von Leben und Werk tatsächlich enger als bei vielen Schriftstellern. Rainer Stach, der uns ja bei der Serie beraten hat, hat in seiner grossen Biografie extrem komplex und völlig schlüssig rekonstruiert, wie etwa «Die Verwandlung» ganz konkret aus mehreren biografischen Ereignissen entsteht und dann in der wunderbarsten Transformation zu etwas ganz anderem wird. Ja, man versteht Kafka doch besser, wenn man etwas über sein Leben und seine Umstände weiss.
Vordergründig ist Kafkas Leben nicht sehr interessant. Und doch ist daraus eines der wirkmächtigsten Werke der Weltliteratur entstanden.
Wirkmächtig, genau – wie Shakespeare, wie Dante. Ich finde es nicht lächerlich, zu sagen: «Kafka und Shakespeare, Kafka und Dante.» Sie schauen skeptisch?
Na ja, Dante hat rückblickend und enzyklopädisch die Weltsicht seiner Zeit noch einmal zusammengefasst, während Kafka…
…. ein anti-enzyklopädisches Werk geschrieben hat. Es ist die Innenseite seiner Zeit. Er ist ein grosser Vorahner. Kafka fasst etwas zusammen, was zu seiner Zeit gerade erst anfängt. Er hat die technologische Moderne, die bürokratische Moderne, in einer Weise gefasst, die aus einer ganz individuellen Innenperspektive heraus vollkommen gültig ist und für uns alle überzeugend, auch für Chinesen, Japaner, Afrikaner. Weil er selber in einer bürokratischen Hierarchie gearbeitet hat, und zwar eher auf der Täter- als auf der Opferseite, hat er Tendenzen und Paradoxien und Entwicklungen wahrgenommen und geahnt, die eigentlich erst später wirksam wurden.
Die Serie führt uns ja in eine vergangene Welt, die Schreibpulte in den Büros, die Kutschen, die Kostüme. In dieser Welt haben viele gearbeitet, auch viele Schriftsteller. Aber nur Kafka hat den Totalitarismus, die Entfremdung des Menschen, die Welt des Absurden vorausgeahnt. Was hatte er für einen Zugang zu einer Wahrheit, den andere nicht hatten?
Es bleibt ein Rätsel, und es bleibt ein Wunder. Kafka muss wie ganz wenige Schriftsteller offen gewesen sein für das eigene Unterbewusste, für die eigene Traumwelt. Er hatte da einen unmittelbaren Zugang, und deswegen hat er auch so sehr an das Schreiben als eine Art rauschhaft-hypnotischen Vorgang geglaubt.
Er beschreibt diesen Zustand ja selbst mit dem Wort «Tiefe» in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer, wo er auch einen Kellerraum skizziert als idealen, ungestörten Raum zum Schreiben.
Er sagt ein andermal: «Nacht muss es sein und auch die Nacht ist nicht Nacht genug.» Er meint damit, dass er Umstände braucht, die einen tranceartigen Kontakt mit seinem eigenen Seelenleben bis in die verborgensten, verdrängtesten Inhalte herstellt. Und deswegen konnte er wie wohl überhaupt kein Schriftsteller vor ihm und nach ihm Traumbilder in die Literatur eingehen lassen.
«Ich finde, in einer Welt, in der immer alle Gewinner sein wollen, hat das etwas unglaublich Tröstendes, dieses Werk voller Verlierer.»
Traumbilder ganz anderer Art als die, mit denen der gleichzeitig tätige Sigmund Freud arbeitete.
… der sie ja ins Rationale überführt. Kafkas grosse Leistung ist ja, dass er sie in Sprache überführt, aber in ihrem Rätsel belässt.
Kafkas Eindruck kann man sich bei der Lektüre nur schwer entziehen. Hatten Sie als junger Autor eine Kafka-Phase?
Nein, die hatte ich nicht. Aber als ich mich jetzt für die Serie viel mit ihm beschäftigt habe, habe ich gemerkt, dass es etwas schier Überwältigendes haben kann, dauernd konfrontiert zu sein mit Kafkas extremer Forderung an sich selbst als Schriftsteller. Das kann einen selbst ein wenig ersticken: Denn man kann ja nur etwas fertig schreiben, wenn man nicht ständig in Trance ist und auch Handwerk einsetzt. Es hat ja auch etwas zu bedeuten, dass Kafka nichts Grösseres fertig geschrieben hat. Seine Romane sind alle unvollendet.
In der Serie stellen Sie Kafka, den Perfektionisten, fast programmatisch seinem Freund Max Brod gegenüber, für den «gut genug» auch mal reichen muss. Sind Sie als Autor auch manchmal ein Brod?
Jeder, der als Schriftsteller lebt, muss in gewisser Weise auch Brod sein. Und deswegen hat Kafkas totale Ablehnung des brodhaften Fertigschreibens von Texten, des Handwerks und auch manchmal des Kompromisses, in dieser Reinheit und Absolutheit etwas Berechtigtes, aber auch sehr Einschüchterndes. In der fünften Folge der Serie hat Kafkas Freundin Milena, die ja auch Schriftstellerin ist, einen grossen Wutausbruch. Sie wirft Kafka vor, dass es auch sehr leicht ist, so hohe Ansprüche zu haben, sodass man nie etwas fertig schreibt. Dieser Ausbruch beruht auf keiner Quelle, das ist mein Text. Das ist etwas, das ich Kafka auch mal sagen wollte. (lacht)
Sie und Kafka: Ich kann mir keinen grösseren Gegensatz vorstellen. Sie sind noch sehr jung schon sehr erfolgreich gewesen, Sie sind ununterbrochen produktiv, Sie wirken wie ein gesunder, fröhlicher Mensch, der durchs Leben tänzelt. Kafka dagegen stellen wir uns als unglücklichen Menschen vor, der in allem gescheitert ist.
Ich verstehe, dass manche mit Skepsis darauf reagieren, dass gerade ich diese Serie geschrieben habe. Mein Interesse am Stoff kommt auch daher, dass ich mich der verschwundenen Welt der jüdischen Intellektuellen der k. u. k. Monarchie manchmal noch nahe fühle. Mein Grossvater hat diese Welt noch erlebt, er kannte Joseph Roth, er kannte Leo Perutz. Aber ein ganz anderer Punkt: Es hätte nicht so laufen müssen bei Kafka. 1914 will er nach Berlin ziehen, Robert Musil will ihm eine ganze Ausgabe der «Neuen Rundschau» einräumen für «Die Verwandlung». Damit wäre sein Ruhm gesichert gewesen. Er hätte ein erfolgreicher freier Schriftsteller sein können. Er war damals noch gesund, hatte weder die Spanische Grippe noch die Tuberkulose. Und dann bricht der Erste Weltkrieg aus und alles zusammen.
Sie meinen, Kafka hätte ein Kehlmann werden können?
Oder ich ein Kafka. Natürlich nicht in qualitativer Hinsicht, das würde ich mir niemals anmassen. Aber ich hatte im Leben ein paarmal Glück, als ich auch Pech hätte haben können. Dann hätte ich jetzt vielleicht einen Lehrauftrag an einer provinziellen Uni, würde schwer lesbare Bücher schreiben, die keinen Verlag finden… Die Zufälligkeiten des Lebens soll man nicht kleinreden.
Ich weiss, was Sie meinen. Mir fällt es trotzdem schwer, mir Kafka als gesunden – Tuberkulose wäre ja heute heilbar – und erfolgreichen Menschen vorzustellen. Ich sehe bei ihm das selbstzerstörerische Element dann doch zu stark. Ganz abgesehen davon, was ihm als Juden zugestossen wäre, wenn er den Siegeszug der Nazis noch erlebt hätte.
Er wäre wahrscheinlich nach Israel gegangen wie Leo Perutz oder Max Brod, er sprach ja sogar Hebräisch. Natürlich hätte es dort auch einen Biografiebruch gegeben. Aber das Selbstzerstörerische kam sehr stark erst mit der Krankheit, mit dem Krieg, mit der Depression. Ein Kafka, der 1914 nach Berlin gegangen wäre, hätte die Kraft haben können, sich literarisch in völlig neue Richtungen zu entwickeln. Ich kann mir das vorstellen.
Sehen Sie den nächtlichen Schreibzwang bei Kafka als ein stark destruktives Moment? Hat er damit seine Gesundheit zerstört und seine Beziehungen torpediert?
Man darf Kafka auch nicht allzu sehr auf den Leim gehen. Er hat sich schon sehr selbst als Opfer gesehen und stilisiert. Er hatte zum Beispiel einen unglaublich angenehmen Job bei der Versicherung. Er hatte immer um 14 Uhr Arbeitsschluss, und er hat niemals Akten nach Hause mitgenommen. Kafka hatte Chefs, die ihn verehrt haben als Schriftsteller. Es war wirklich ein lustiger Ort, diese Prager Unfall-Versicherung, voll von Leuten, die Gedichte geschrieben und diese einander gezeigt haben.
Und seine Beziehungen? Die vertrugen sich doch auch nicht mit der Literatur.
Auch das ist zum Teil eine Ausrede. Er hat Felice Bauer geliebt, aber er wollte mit ihr gar nicht zusammenleben. Er fühlte sich in dieser Fernbeziehung ganz wohl. Ich denke, jenseits von Kafka, dass sich das Schreiben und das Leben eigentlich ganz gut vertragen. Es ist sogar so – nicht nur bei mir –, dass der Rückzugsort, den das Schreiben bietet, einen eigentlich stabilisiert. Schriftsteller sind sehr gut darin, sich zu Märtyrern zu stilisieren. Aber wenn es einigermassen funktioniert, wenn man Verlage und Leser findet, ist es einer der angenehmsten Berufe überhaupt – es ist nur nicht sehr chic, das zuzugeben.
Warum hat Kafka sich selbst immer so klein gemacht – wo er doch, wie die Serie sehr schön zeigt, ganz anders war, nämlich erfolgreich im Beruf, eloquent, beliebt, ja attraktiv?
Man hat das traditionell als Musterfall für die psychoanalytische Interpretation genommen: Der Vater hat ihn so klein gemacht als Kind, dass er sich davon nie lösen konnte. Das mag schon richtig sein. Aber ich finde, in einer Welt, in der immer alle Gewinner sein wollen, hat das etwas unglaublich Tröstendes, dieses Werk voller Verlierer. Kafka bringt uns ja bei, dass wir das alle letztlich sind, Versager und Verlierer, und die Lächerlichkeit von allem Auftrumpfenden und jeder Siegerpose. Und dass dieser Mensch, der sich immer als Verlierer sehen wollte, der seine Romane nicht fertig schrieb, der sein Werk vernichtet haben wollte: dass dieser Mensch der wirkungsmächtigste, berühmteste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts geworden ist. Das ist schon eine sehr schöne Ironie der Geschichte.
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