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Spitzenköchin Viviana Varese
«Zu süditalienisch, zu fett, zu lesbisch»

Viviana Varese hat sich an die Spitze der Gastronomie gekämpft. 
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Mailand, Piazza XXV Aprile, der Blick öffnet sich weit über den Platz, zu dem alten Stadttor hin und den eleganten Häuserfassaden. Zumindest wenn man an der exponiertesten Stelle sitzt, auf einer Art schwebender Terrasse aus Glas – den schräg abfallenden Vorbau haben sie vor ein paar Jahren dem Teatro Smeraldo verpasst. Unten im Erdgeschoss des ehemaligen Theaters schieben sich die Foodies bei Eataly an vollgestellten Lebensmittelregalen vorbei.

Im zweiten Stock: Licht, Luft, Freiraum, die besten Tische aus Eichenholz stehen direkt vorn an der Fensterfront. Hoch über der Stadt residiert Viviana Varese mit ihrem Restaurant, und das bedeutet mehr als eine zweifellos geschäftsfördernde 1-a-Lage. Die Beletage ist das glückliche Ende einer Geschichte, die sehr viel weiter unten begann und so eigentlich gar nicht hätte passieren dürfen. Selbst ihr gutes Ende war in Drehbüchern der Spitzenküche bislang nicht vorgesehen.

Das Restaurant Viva in Mailand.

«Viva» heisst das Restaurant der Köchin, über die in Mailand – und das bedeutet: in Italien – so viel gesprochen und geschrieben wird wie über kaum eine andere Person der Gastronomieszene. Es läuft gut, ein «Michelin»-Stern, Eröffnung eines zweiten Lokals in einem luxuriösen Resort auf Sizilien, das begehrte Ranking «The World’s 50 Best Restaurants» listet sie als besonders innovativ.

Während das junge Servicepersonal den ersten Gästen die Brotauswahl bringt – blonde Brioches, einen hauchdünnen Fladen mit durchscheinenden Gemüsestreifen –, braucht man ein wenig Geduld, bis die Hausherrin so weit ist. Am Nebentisch richten sich zwei zierliche alte Damen in Kamelhaarmänteln und klobigen Prada-Sneakern ein. Varese trägt klassisches Weiss, als sie um die Ecke biegt, keinen der dunklen Küchenkittel, in denen sie sich gerne fotografieren lässt. Raspelkurze Haare mit Stirntolle, fester Händedruck, «sono Viviana». Ein Espresso? Wird prompt serviert.

«Für mich hat sich viel verändert. Aber in der Gastronomie ändert sich zu wenig.»

«Terrona, obesa, lesbica» – mit dieser Selbstbeschreibung hat Viviana Varese die Bühne der Hochküche betreten, als gerade ganz Italien aufmerksam wurde auf die rebellische Chefköchin mit der Gianna-Nannini-Stimme und der Hype richtig losging. Zu fett, lesbisch, aus dem tiefsten Süden: Das war die Zusammenfassung ihrer Startbedingungen, die eigentlich nahelegten, es gar nicht erst zu versuchen.

Sie tat es trotzdem, widerlegte jede schlechte Prognose. Aber abgesehen von der Tatsache, dass eine erfolgreiche Aufsteigergeschichte ein ziemlich gutes Marketinginstrument ist – würde sie den Satz heute immer noch so sagen? «Natürlich würde ich das», sagt Varese. «Weil er immer noch stimmt. Für mich persönlich hat sich viel geändert. Aber in der Gastronomie ändert sich zu wenig.»

Teamwork, Freundlichkeit und Spass bei der Arbeit? In der Küche von Viviana Varese wirkt es so, als sei das realistisch. 

Ausgrenzung, fehlende Chancengleichheit, hierarchische Strukturen in der Küche: Das zu ändern, ist ein zentrales Anliegen der 48-Jährigen, nicht erst, seit die jüngsten Debatten um das Noma in Kopenhagen wieder mal ein unschönes Licht auf die Beschäftigungspraxis von Luxusrestaurants geworfen haben. Wer nicht in das Viva kommt, um gut zu essen (was ein Fehler wäre), kann schon an der Einrichtung erkennen, dass hier andere Wege gegangen werden. Kein strenger Minimalismus oder modern gezügelter Pomp, sondern farbige Glasobjekte, freundlich helles Holz, das Besteck schimmert dank spezieller Beschichtung je nach Licht in Regenbogenfarben.

«Wie könnte ich nicht auf die schauen, die am Rand stehen, mit meiner eigenen Geschichte?»

Varese versteht sich durchaus als LGBTQ-Aktivistin, aber ihr eigentlicher Job ist am Herd. Beides verfolgt sie mit unaufgeregtem Selbstbewusstsein.

«Wie könnte ich nicht auf die schauen, die am Rand stehen, mit meiner eigenen Geschichte?», fragt sie. Varese hat ehemalige Drogenabhängige beschäftigt, Flüchtlinge in ihrer Küche aufgenommen, arbeitet mit einem Frauenhaus in Mailand zusammen. Geboren an der Amalfiküste, kommt sie als Neunjährige in die Lombardei, wie so viele versuchen die Eltern ihr Glück als Gastwirte im Norden. Als «Terroni», Erdfresser, werden in den Achtzigern noch ganz ungeniert die Ankömmlinge aus dem Süden bezeichnet.

Die Pizzeria der Eltern in einem Provinznest floriert, Viviana steht schon mit 14 als Verantwortliche am Ofen, wiegt 125 Kilo und ist in der Schule diejenige, mit der sich niemand verabreden will. Keine der Klassenkameradinnen, und später auch keiner der Jungs, wobei ihr sowieso die Mädchen gefallen. «Glücklich war ich trotzdem», sagt sie. «Ich habe es geliebt, in der Küche zu sein.» Vielleicht ist es auch einfach so: Die Opferrolle liegt ihr nicht.

«Die Hochküche ist noch immer überwiegend frauenfeindlich, weiss und rassistisch.»

Danach folgen: Eine Hospitanz beim legendären Dreisternkoch Gualtiero Marchesi, für die sie aus eigener Tasche zahlen muss. Reihenweise Absagen bei der Suche nach einer Lehrstelle, als Grund genügte es, eine Frau zu sein. Das wurde nie offen ausgesprochen, war ihr aber klar. Schliesslich trotzdem die Eröffnung ihres ersten eigenen Restaurants in Mailand – als Autodidaktin. «Vor 30 Jahren kamen Frauen in Restaurantküchen praktisch nicht vor», erzählt sie. «Sie waren einfach nicht vorgesehen.»

Beschimpfungen, körperliche Attacken, sexuelle Übergriffe: Ausgerechnet in einer Branche, in der das über Generationen vor aller Augen der Alltag in Küchen war, kam die #MeToo-Bewegung spät in Gang. «Heute ist die Hochküche noch immer überwiegend frauenfeindlich, weiss und rassistisch», sagt Varese. «Und ich möchte den Samen säen, damit es anders wird.» Ein Praktikum in einem hochdekorierten Restaurant in Chicago brach sie einst ab, weil sie die «paramilitärische Testosteron-Atmosphäre» nicht länger ertrug. 

Thunfisch im Obst- und Gemüsemantel: Viviana Varese ist auch für fein austarierte Aromen bekannt. 
«La perfezione non esiste» heisst Vareses Dessert aus Meringue und sizilianischen Mandeln – eine kleine Reverenz an die zerbrochene Zitronentorte des Kollegen Massimo Bottura. 

Ihr persönlicher Wendepunkt ist schliesslich eine Station im weltbekannten «El Celler de Can Roca» in Spanien, das sie offen empfängt. Es gibt weniger Hierarchien, weniger Geheimniskrämerei um Zubereitungsmethoden. 2011 dann der «Michelin»-Stern für ihr neues Lokal, mit dem sie in den modernen Gebäudekomplex in Mailands Garibaldi-Viertel umzieht.

Und jetzt ist sie oben angekommen, um genau dort zu bleiben, gegen jede Wahrscheinlichkeit? Über die Frage muss Viviana Varese lachen, nicht nur, weil eine wie sie sich immer neue Ziele setzt, und bei den Sternen ist ja Luft nach oben.

Die Zutaten für ihre Gerichte kommen auch aus dem eigenen Garten, der ihrem 2021 eröffneten Restaurant Villadorata auf Sizilien angeschlossen ist.

Es scheint auch so, als ob ihr die eigene Erfolgsgeschichte einfach immer noch Freude machte. Und wenn sie über ihre Art zu kochen spricht, geht es um Gerichte mit Seele, «con anima», die sich von der kalten Perfektion straff durchorganisierter Zubereitungslabors unterscheiden. Ihr gegrilltes Artischockenherz mit Bitterschokolade und Lakritz, die kleine gedämpfte Pizzakugel mit süsslichem Tomatenkern: «Ich suche bei jedem Gericht nach den Aromen meiner Herkunft. Wenn man so will, nach der Essenz des Südens.»

«Probier es aus, das ist meine Devise.»

Viviana Varese

Das gelingt ihr gemeinsam mit ihrer Küchenbrigade, die kaum diverser sein könnte. Fast die Hälfte der 20 Mitarbeitenden sind Frauen, sie hat mit Flüchtlingen aus Senegal oder Ghana gearbeitet, bei der Einstellung spielen Hautfarbe oder sexuelle Orientierung natürlich keine Rolle. «Warum auch, was soll das mit der Fähigkeit als Koch oder Köchin zu tun haben?», sagt sie.

Es gibt tägliche Briefings, bei denen sie Wert auf familiäre Atmosphäre legt, kurz nach der Pandemie führte sie ein Rotationssystem ein, nach dem jeder in der Küche mal für das saubere Geschirr zuständig ist, la chef eingeschlossen. Und ja, natürlich führe sie Bewerbungsgespräche selbst, auch für Praktika – und sie gebe gern Anfängern eine Chance. «Probier es aus, nur so kannst du deinen Weg finden, das ist meine Devise.» Dass die Spitzengastronomie ständig über Personalprobleme klagt, aber kaum jemand Mitarbeitende einstellt, die nicht in das gängige Schema passen, findet sie inkonsequent.

Kompromisse bei der Qualität darf es auch bei ihr nicht geben, das macht etwa das Projekt «Io sono viva» deutlich, auf Deutsch «Ich bin lebendig». Dafür hat sie Opfer häuslicher Gewalt, deren Zahl auch in Italien während Corona sprunghaft angestiegen ist, als ungelernte Kräfte beschäftigt für Glacekreationen, Fruchttörtchen oder fluffige Brioches. Alles unter der Aufsicht eines erfahrenen Konditors, verkauft wird das Sortiment in einem eigenen Laden.

Die Früchte für die Zitronentorte kommen von der Amalfiküste oder gleich aus dem eigenen Garten, der ihrem 2021 eröffneten Restaurant Villadorata auf Sizilien angeschlossen ist. Es liegt in der Nähe der Barockstadt Noto, die sich günstigerweise immer mehr zu einem Lieblingsort sizilienverliebter Touristen aus den USA oder Asien entwickelt hat.

Die Süditalien-Romantik lassen sich viele von ihnen einiges kosten. «Aber natürlich», wieder das typisch raue Varese-Lachen, «ist das gut für mich. Ich bin ja auch Unternehmerin.»