«Zeit» im Kunsthaus ZürichNehmen Sie sich Zeit für diese Ausstellung, sie lohnt sich
Die grosse Herbstausstellung «Zeit. Von Dürer bis Bonvicini» im Kunsthaus Zürich plädiert für einen souveränen Umgang mit der eigenen Zeit.
Bringen Sie viel Zeit mit beim Besuch der neuen Ausstellung im Zürcher Kunsthaus, die nicht weniger als 250 Objekte präsentiert, ein Fünftel davon Uhren! Denn was liegt näher bei diesem unerschöpflichen Thema, als die Schätze des Musée international d’horlogerie in La Chaux-de-Fonds und des Uhrenmuseums Beyer in Zürich anzuzapfen?
Zu bewundern sind Uhren in allen sechs Kapiteln eines Ausstellungsmarathons durch die Kunst- und Kulturgeschichte der Zeit. Das beginnt mit skulpturalen Kostbarkeiten aus dem 16. Jahrhundert wie der «Grossen Eisenuhr mit Automat» aus Süddeutschland, auf deren Vorderseite zwei Zifferblätter Sonnenzeit und Mondzeit darstellen, während auf der Hinterseite ein Mönch in der Schreibstube zu sehen ist. Das reicht bis zum Swatch-Modell GC700 aus dem Jahr 1983. Dank dieser Plastikuhr hat die Schweizer Uhrenindustrie einst ihren erfolgreichen Ausweg aus einer existenzbedrohenden Krise gefunden.
Vorbild Harald Szeemann
Fragen Sie nicht, was fehlt! Denn Sie werden im Kunsthaus Zürich weder Charlie Chaplin noch William Kentridge oder Fischli/Weiss begegnen, obwohl Zeit im Werk dieser drei, aber auch bei unzähligen anderen Künstlern eine zentrale Rolle spielt. Lassen Sie sich hingegen verführen von dem stupenden Angebot an Bildern, Installationen und Filmen, das Kuratorin Cathérine Hug zusammengesucht hat. Gefunden zum Teil in den Depots des Kunsthauses Zürich, zum Teil in den Sammlungen von in- und ausländischen Museen sowie privaten Beständen.
Wie es sich gehört, wenn man als Kuratorin ein derart riesiges Thema an Land zieht, wird im Katalog dem Erfinder dieser Art von Ausstellungen Referenz erwiesen. Es ist Harald Szeemann (1933–2005), das charismatische Vorbild, der in Zürich einst so unvergessliche Ausstellungen wie «Der Hang zum Gesamtkunstwerk» und «Junggesellenmaschinen» und an der Expo 02 «Geld und Wert» inszenierte.
Wir sehen auf unserem Ausstellungsrundgang jede Menge Bekanntes und Unbekanntes. Wir begegnen Thomas Ruffs Sternenbild «22h 24m / -20°», das dank einer überaus langen Belichtungszeit mehr vom Sternenhimmel zeigt, als wir von blossem Auge erkennen können.
Wir sehen Rirkrit Tiravanijas aus Blattgold gefertigtes Werk «Untitled (Eclipse 02, The Nation, September 3, 2014)». Ein prachtvolles Bild, das dort, wo bei einer Sonnenfinsternis die Sonne hinter dem Mond hervorscheint, den Blick auf Zeitungsblätter freigibt. Wie wenn der Künstler sagen wollte, dass unsere Welt von Nachrichten anstelle der Sonne erleuchtet wird.
Füllhorn an Zeitdarstellungen
Wir begegnen auch Roni Horns Meditationen über die Wasseroberfläche der Themse, modernen Stillleben, die sich unter dem Titel «Still Water (The River Thames, for Example)» als Geschenk des Mireille-Wunderly-Fonds für Gegenwartskunst in der Sammlung des Kunsthauses befinden.
Die Bilder der Ausstellung sind auf dunkelgrünen und rosa Wänden gehängt und in sechs Kapitel gegliedert, die Ordnung in das hier ausgebreitete Füllhorn von Zeitdarstellungen und Zeitauseinandersetzungen bringen. Es beginnt mit «Deep Time», was so viel wie kosmische Zeit meint, da sind die eben erwähnten Werke ausgestellt. Sie führt über die Stationen «Biologische Zeit», «Ökonomische Zeit», «Politische Zeit», «The Information Superhighway» hin zu «Eigenzeit».
Individuelle Zeit
Im letzten Kapitel «Eigenzeit» wird insbesondere das Ausruhen, Erholen und Träumen thematisiert, dem wir uns nach einem anspruchsvollen, aber immer wieder überraschenden Rundgang nur allzu gerne hingeben.
Gerne erinnern wir uns an den prominent platzierten Kissenstapel «La Siesta» (1998) von Los Carpinteros, einem Künstlerduo bestehend aus Dagoberto Rodriguez und Marcos Castillo, den Cathérine Hug über die Zürcher Galerie Peter Kilchmann (die auch sonst tatkräftig als Leihgeberin fungiert) für die Dauer der Ausstellung ausleihen konnte.
Wie der sprichwörtliche rote Faden sind Werke von Monica Bonvicini und Alicja Kwade in die Ausstellungsgestaltung verwoben. Da wäre nicht nur die aus dem Jahre 2020 stammende fussballgrosse Kugel aus lauter Digitaluhren mit Metallbändern von Bonvicini zu nennen, die sie «Time of My Life» betitelt und der unzweifelhaft ein gehöriges Gewaltpotenzial innewohnt.
Da liegen auch an vier Orten in der Ausstellung Handschellen am Boden, die an von der Decke herabhängenden Ketten befestigt sind. Man soll sie, so die ausdrückliche Aufforderung an die Besucher, unter Aufsicht des Wachpersonals gerne auch mal anziehen. Was wir bei unserem Besuch aber bleiben lassen. Weil es uns zu viel unserer kostbaren Zeit gekostet hätte. Denn Zeit ist ja nicht nur Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Freiheit, sondern eben auch, wenn sie Berufswelt und Alltag taktet, Korsett oder Gefängnis, je nachdem, wie sehr man sich ihr unterwirft oder unterwerfen muss.
Für Kawara waren Datumszeilen eine Art Meditation, eine Übung, wie er sagte, die nützlich sei, um sein Ich zu verlieren.
Von Alicja Kwade wiederum sei die in Bronze gegossene Schale einer Zitrone hervorgehoben, die frisch geschält wie eine Spirale im Raum steht und auf wunderbare Weise das Momentane mit dem Ewigen, das Lebendige mit dem Toten, das Weiche mit dem Harten oder ganz einfach das Gelbe ins Bronzene übergehen lässt. Es handelt sich um ein metallenes Stillleben, das zu Recht neben Meisterwerken stehen darf wie Pieter Claesz' «Stillleben mit grossem Berkemeyer und goldener Taschenuhr» aus dem Jahre 1632, das die Stiftung Betty und David Koetser dem Kunsthaus 1978 geschenkt hat.
Von Kwade stammen auch die sechs Messingringe aus der Kunstsammlung der Grossbank UBS, die wie ineinander verkeilte, zur Ruhe gekommene Hula-Hoop-Reifen auf dem Boden liegen. Für uns sind sie sinnbildlich für jenes Phänomen, das in der Dichtung gefrorene Zeit genannt wird.
Auch mit der Endlichkeit unseres Daseins beschäftigt sich die Schau, etwa mit Albrecht Dürers «Tod und Landsknecht» und «Melencolia I», die genauso zu Ehren kommen wie On Kawaras Datumsbilder. Der 2014 verstorbene japanische Konzeptkünstler stellte, beginnend mit dem 4. Januar 1966, mehr als 2000 dieser «Date Paintings» her. Für ihn waren die auf schwarzem oder rotem Grund gemalten Datumszeilen eine Art Meditation, eine Übung, wie er sagte, die nützlich sei, um sein Ich zu verlieren.
Ganz anders wiederum gingen die Futuristen mit Zeit um. Von Natalja Gontscharowa und Giacomo Balla sind grossartige Gemälde aus den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts in der Ausstellung zu sehen, die mit malerischen Mitteln Geschwindigkeit abzubilden versuchen.
In dem mit «Politische Zeit» überschriebenen Ausstellungskapitel werden wir schliesslich mit dem Phänomen der 1884 vom imperialen London verfügten Aufteilung der Welt in zwölf Zeitzonen mit dem Nullmeridian in Greenwich konfrontiert, die vom italienischen Historiker Giordano Nanni als eine Kolonialisierung der Zeit kritisiert wurde.
Die Ausstellung stellt zu diesem Themenkomplex, der auch von der von Camae Ayewa and Rasheedah Phillips gegründeten, aus Philadelphia stammenden Künstlergruppe Black Quantum Futurism aufgegriffen wird, ein Dutzend Bücher zur Verfügung.
Ihre Umschläge nehmen wir gerne zur Kenntnis, ihre Lektüre würde aber jedes Zeitbudget sprengen, das einem für einen Ausstellungsbesuch zur Verfügung steht. Und so setzt hier der Satz von Black Quantum Futurism den Schlusspunkt, mit dem auf einem Plakat in der Ausstellung gegen jede kolonialistische Herrschaft über unsere Zeit rebelliert wird: «All time is local».
Die Ausstellung dauert bis zum 14. Januar.
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