Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Neue Zahlen
«Sie leben in völliger Über­forderung» – Sozial­hilfe wird zum Auffang­becken psychisch kranker Menschen

Silhouette of pretty young woman sitting on the floor near big window
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Die Sozialhilfequote in Schweizer Städten ist 2023 um 4,3 Prozent gesunken.
  • Zunehmend betroffen sind Menschen mit psychischen Problemen, besonders Einzelpersonen ab 25 Jahren.
  • Flüchtlinge sind häufiger auf Sozialhilfe angewiesen, leiden oft an Traumata.
  • Es fehlen psychiatrische Angebote für Sozialhilfebeziehende mit schweren psychischen Symptomen.

Es ist erst mal eine gute Nachricht: Die Sozialhilfequote ist in den meisten Schweizer Städten so tief wie schon lange nicht mehr. Gemäss der kürzlich veröffentlichten Erhebung der Städteinitiative Sozialpolitik sank im Jahr 2023 auch die absolute Zahl der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger. Im Durchschnitt der 14 erfassten Städte betrug das Minus gegenüber dem Vorjahr 4,3 Prozent. Unter diesen Städten sind Basel, Bern, Lausanne, Winterthur und Zürich. Die Erhebung deckt ein Viertel aller Sozialhilfebezüger der Schweiz ab. 

Der gut laufende Arbeitsmarkt trägt gemäss verschiedenen Experten massgeblich zu dieser Entwicklung bei. Die Wirtschaft in der Schweiz sei auch auf Menschen mit geringen Qualifikationen angewiesen, sagen sie. «Wer arbeitsfähig ist, findet recht schnell eine Stelle», schreibt Nicolas Galladé, Winterthurer Stadtrat und Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik, im neuen Sozialhilfebericht. Auch trage die Arbeit der städtischen Sozialdienste Früchte, beispielsweise die gezielten Programme zur Integration in den Arbeitsmarkt. 

Doch gleichzeitig gibt es eine wachsende Gruppe, die zunehmend von der Gesellschaft abgehängt wird: psychisch angeschlagene und psychisch kranke Menschen. «Wir müssen davon ausgehen, dass etwa die Hälfte unserer Sozialhilfeklientinnen und -klienten psychische Probleme hat», so beschreibt es Nicolas Galladé. Ein Viertel der Bezügerinnen und Bezüger sei wegen der psychischen Probleme im Alltag eingeschränkt. Ihr Anteil an den Sozialhilfeempfängern steigt kontinuierlich an – gemäss den befragten städtischen Sozialdiensten seit mindestens fünf Jahren. 

Die Einschränkungen dieser Menschen betreffen nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern auch das Erledigen von administrativen Alltagsdingen wie Rechnungen bezahlen oder das Pflegen von sozialen Kontakten. Gemäss der Erfahrung der Sozialdienste sind es am häufigsten Einzelpersonen ab 25 Jahren, die von psychischen Belastungen berichten – und weniger oft Menschen mit Familien, Kinder und junge Erwachsene. 

Viele Flüchtlinge unter den Bezügern

Den Anstieg bei den schweren Fällen führen die befragten städtischen Sozialdienste auch darauf zurück, dass vermehrt Flüchtlinge von den kantonalen Sozialhilfen abhängig sind. Diese leiden häufig an posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen – als Folge des Erlebten in ihrer Heimat oder auf der Flucht. Der Bund bezahlt für anerkannte Flüchtlinge die Sozialhilfekosten während höchstens fünf Jahren. Danach sind die Kantone respektive die Gemeinden zuständig.

Was das für die Behörden bedeutet, beschreibt eine anonyme Fachperson im Bericht der Städteinitiative: «Wir begleiten mehr Menschen, die in völliger Überforderung leben – wir machen die komplette Verwaltung: Vermögen, Krankenkasse etc. läuft alles über uns. Wir sehen nicht, wie wir sie ablösen könnten. Diese Menschen stehen unter hohem Stress, fühlen sich ausgeliefert und hilflos.»

Ein weiterer Faktor, der psychisch kranke Menschen in die Sozialhilfe treibt, sind die verschärften Regeln der Invalidenversicherung (IV). Diese begann ab 2013, alle Rentendossiers systematisch zu überprüfen. Zahlreichen IV-Bezügern wurden darauf die Renten gestrichen. Nicht alle schafften es, sich wieder im Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Viele landeten daraufhin in der Sozialhilfe. Mittlerweile gibt es Studien, die diese Verschiebung von der IV in die Sozialhilfe belegen.

Dorian Kessler ist Professor an der Berner Fachhochschule im Department Soziale Arbeit. Er hat vor drei Jahren im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) den Gesundheitszustand der Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger erforscht. Auch er kam zum Schluss, dass diese viel häufiger psychisch erkrankt sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. «Nun beziehen Menschen Sozialhilfe, die eigentlich eine dauerhafte Lösung brauchen, um über die Runden zu kommen», sagt Kessler. Das mache wenig Sinn: «Die Sozialhilfe ist als Übergangslösung gedacht.»

Psychiater fehlen

Psychisch Kranke bräuchten aus der Sicht des Sozialwissenschafters eher Zugang zu massgeschneiderten Beschäftigungsprogrammen oder anderen Integrationsmassnahmen. Doch ausgerechnet bei der fachlichen Betreuung herrscht ein Mangel. «Schätzungsweise rund 9000 Sozialhilfebeziehende mit schweren oder eher schweren Depressionssymptomen nehmen keine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung in Anspruch», sagt Kessler. 

Auch die Städteinitiative thematisiert in ihrem Bericht die fehlenden Kapazitäten auf Seite der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung. Das Angebot an niederschwelligen, zeitnah verfügbaren Abklärungs- und Therapiemöglichkeiten sei oft nicht ausreichend. Nicolas Galladé sagt dazu: «Die Sozialhilfe kann die Lücken im Gesundheitswesen nicht schliessen. Aber sie kann das Thema psychische Gesundheit stärker fokussieren und ihren Beitrag für eine gute Zusammenarbeit mit dem gesamten Hilfesystem leisten.» 

Forscher Kessler sagt, in anderen Ländern nähmen Betroffene mittlerweile häufig Onlinetherapieangebote in Anspruch. Beispielsweise in den USA habe sich das Angebot von «Better Help» etabliert. Der Onlinedienst ermöglicht es den Patienten, rund um die Uhr in Kontakt mit ausgebildeten Therapeuten treten zu können.

Wenn Sozialhilfe kränker macht

Die Sozialhilfe ist häufig eine Entlastung für die Psyche der Bezügerinnen und Bezüger – aber nicht immer. «Betroffene sprechen von Druck, Machtlosigkeit, Stigmatisierung, Einschränkungen bei den sozialen Beziehungen und wenig Verständnis für ihre Lage, was sich auf ihre Situation zusätzlich negativ auswirke», heisst es dazu im Bericht der Städteinitiative. 

Auch Kessler sagt: «Der Sozialhilfebezug nagt an den Menschen und ruft manchmal selbst Depressionen hervor.» So habe die BAG-Studie gezeigt, dass die Menschen in der Sozialhilfe häufiger unzufrieden seien mit ihrem Leben als IV-Bezüger. Und in Skandinavien komme eine Studie zum Schluss, dass insbesondere Männer mit hohem Bildungsabschluss vermehrt Psychopharmaka einnähmen, wenn sie Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssten.