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Urteil des Bundesgerichts
Sozialhilfebezüger müssen ihre Pensionskasse nicht aufbrauchen

Ein Rentner liest eine Tageszeitung, fotografiert am Freitag, 2. Februar 2024 in Uster. (KEYSTONE/Christian Beutler)
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Während fast zehn Jahren lebte A. aus der Baselbieter Gemeinde Rümlingen von der Sozialhilfe. Ab 63 bezog er dann die AHV-Rente, wie dies bei Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern üblich ist.

Allerdings erhielt der Neurentner vor der Sozialbehörde Rümlingen gleich noch eine gesalzene Rechnung von rund 78’000 Franken. Die Begründung: Er verfügte auf einem Freizügigkeitskonto über ein Pensionskassenkapital von 105’000 Franken, von welchem die Behörde nichts gewusst hatte. Diese stellte sich auf den Standpunkt, dass der Mann mit 60 das Pensionskassenvermögen hätte beziehen müssen, um davon bis zur AHV-Berechtigung zu leben. Deshalb forderte die Gemeindebehörde die Sozialhilfe zurück, die der Mann zwischen 60 und 63 bezogen hatte.

Dagegen legte der Mann zunächst Einsprache beim Baselbieter Regierungsrat ein und dann beim Kantonsgericht, beide Male ohne Erfolg. Das Bundesgericht gab ihm nun in letzter Instanz recht. Sozialhilfebezüger dürften nicht zum vorzeitigen Bezug der Pensionskasse gezwungen werden, beschied das Gericht. Allerdings gilt dies nicht generell, sondern nur dann, wenn das Pensionskassenvermögen in den drei Jahren bis zum AHV-Bezug vollständig aufgebraucht würde. Dies wäre bei A. der Fall gewesen.

Im Thurgau gängige Praxis

Das Bundesgericht geht davon aus, dass der alleinstehende Mann pro Jahr rund 40’000 Franken benötigt, dies entspricht dem Existenzbedarf gemäss den Kriterien der Ergänzungsleistungen. Nach zweieinhalb Jahren hätte A. sein Pensionskassengeld wohl aufgebraucht gehabt und wäre wieder bei der Sozialhilfe gelandet.

Das Bundesgericht verweist in seinem Urteil unter anderem auf die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Die Skos geht grundsätzlich davon aus, dass auf das Kapital der zweiten Säule erst mit dem Bezug einer AHV- oder IV-Rente zugegriffen werden soll.

Die Skos zeigt sich denn auch erfreut über das Urteil, denn anders als die Skos-Richtlinien hat das Bundesgerichtsurteil für die Gemeinden und Kantone eine grössere Verbindlichkeit. Zahlreiche Gemeinden müssen nun ihre Praxis ändern.

Die Baselbieter Gemeinde Rümlingen ist längst nicht die einzige, die Sozialhilfebezüger zur vorzeitigen Auflösung ihres Freizügigkeitskontos verpflichtet. Dies zeigt eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Die Verpflichtung zum Vorbezug ist etwa im Kanton Thurgau gängige Praxis, wobei einzelne Gemeinden die Klienten sogar dazu auffordern, rechtmässig bezogene Sozialhilfe mit dem Pensionskassengeld zurückzuerstatten. Drei Viertel der angefragten Thurgauer Gemeinden gaben an, Sozialhilfebeziehende zum Vorbezug zu verpflichten.

Auch im Aargau verlangen manche Sozialdienste den Vorbezug. Allerdings dürfen dort die Behörden seit Anfang 2023 nicht mehr fordern, dass mit dem Geld Sozialhilfe zurückerstattet wird. Bis dahin war dies in manchen Aargauer Gemeinden üblich. Im Kanton Zürich gaben die meisten Sozialdienste an, dass sie keinen Vorbezug des Pensionskassenvermögens verlangen. Erwogen wird das allenfalls bei hohen Guthaben. Die Kantone Bern und Basel-Stadt verzichten laut eigenen Angaben darauf, von Sozialhilfeempfängern den Vorbezug ihrer Pensionskassengelder zu verlangen.

Bundesgericht lässt einige Fragen offen

Trotz des Bundesgerichtsurteils bleiben einige Fragen weiterhin ungeklärt. So äusserte sich das Gericht in Lausanne nicht zur Frage, wie weit eine Rückerstattung von rechtmässig bezogener Sozialhilfe aus Pensionskassenvermögen zulässig ist. Zudem schliesst das Bundesgericht nicht aus, dass Sozialhilfeempfänger weiterhin zum Vorbezug ihrer Pensionskassengelder verpflichtet werden können, wenn es sich um grössere Vermögen handelt. Unvereinbar sei der Zwang zum Vorbezug dann, wenn jemand das Kapital vor Erreichen des AHV-Bezugsrechts aufbrauchen müsste und erneut Sozialhilfe benötigen würde, befand das Bundesgericht.

Für die Skos bringt dieses Urteil dennoch «Klarheit in einer seit längerer Zeit umstrittenen Frage». Denn die grosse Mehrheit der Sozialhilfebeziehenden verfüge über ein Pensionskassenvermögen, das wie im vorliegenden Fall den Lebensbedarf nicht während dreier Jahre decke.

Wer seine Stelle verliert und deshalb auf Sozialhilfe angewiesen ist, ist oft keiner Pensionskasse mehr angeschlossen. Das Kapital liegt dann auf einem Freizügigkeitskonto und kann frühestens 5 Jahre vor dem ordentlichen AHV-Alter bezogen werden. Dies ist bei Männern mit 60 der Fall, bei Frauen aktuell noch mit 59. Eine Rente erhalten die Betroffenen jedoch nicht, sondern nur das Kapital. Die Sozialhilfeempfänger sind meistens beim AHV-Bezug zusätzlich auf Ergänzungsleistungen angewiesen.