Frauen gegen Taliban«Wir werden nicht still sein»
Die Islamisten haben Proteste verboten, aber davon wollen sich die Demonstrantinnen in Afghanistan nicht aufhalten lassen. Auch wenn sie sich damit in grosse Gefahr bringen.
Was Regierungen besonders wichtig ist, lässt sich an ersten Amtshandlungen gut ablesen. Demonstrationen sind in Afghanistan nun verboten. Das hat die Taliban-Regierung kurz nach Bekanntgabe ihres Übergabekabinetts verfügt. Aber davon wollen sich zahlreiche Aktivistinnen nicht aufhalten lassen: «Unser Land brennt, unsere unschuldigen Menschen sterben, wir Frauen bekommen keine Luft mehr», schreibt die Anwältin Jamila Azimi aus der westafghanischen Stadt Herat der Tamedia-Redaktion in einer Textnachricht.
Die Islamisten, die am Mittwoch ein Kabinett präsentiert hatten, in dem neben zahlreichen Mullahs auch international gesuchte Terroristen vertreten sind, zielen mit ihrem Demonstrationsverbot vor allem gegen die Frauen des Landes.
Nicht nur, aber vor allem sie sind in den vergangenen Tagen in mehreren Städten des Landes auf die Strasse gegangen – um für ihre Freiheit und gegen die Beschneidung ihrer Rechte zu protestieren, gegen die Einmischung Pakistans, des Nachbarlands, dem immer wieder vorgeworfen wird, die Taliban zu unterstützen.
Taliban drehen die Uhr zurück – trotz neuer Realität
Vor 20 Jahren zerbrach das drakonische Regime der Islamisten, kurz nach dem Einmarsch des Westens. Nun sind die Taliban wieder an der Macht, kurz nach dem Abzug des Westens. Auch wenn sich manche ihrer Anführer öffentlich gemässigter geben, an der Einstellung, dass Frauen in der Gesellschaft keine Rolle spielen sollen, hat sich nichts geändert: In ihrem Übergangskabinett findet sich keine einzige Ministerin. (Lesen Sie zum Thema die Analyse «Die Taliban-Regierung zerstört endgültig alle Illusionen».)
Aber die Welt um die Taliban herum hat sich geändert, auch die Realität in Afghanistan. Vor allem in den Städten sind zahlreiche gesellschaftliche Fortschritte zu beobachten. Die Fernsehnachrichten werden von Moderatorinnen präsentiert, Frauen arbeiteten in Schulen, Banken und Friseursalons – all dies war zu Zeiten des ersten Taliban-Regimes von 1996 bis 2001 undenkbar.
Nun drehen die Islamisten die Uhr zurück. «Die Taliban als legitime Regierung anzuerkennen, würde internationales Recht verletzen», schreibt die Anwältin Azimi aus Herat. Sie hat für eine Frauenorganisation gearbeitet, nun soll sie aber erst einmal zu Hause bleiben.
Genau so schildert es auch Samira Khairkhwah. Sie war bei den Kabuler Elektrizitätswerken in der Medienabteilung angestellt. Nun darf sie nicht mehr zur Arbeit gehen. Die Taliban hätten ihr und anderen Frauen signalisiert: Wartet, bis wir unsere Haltung zu Frauen festgelegt haben. Aber das lässt sich die 25-Jährige nicht gefallen, sie hat in den vergangenen Tagen demonstriert.
Samira Khairkhwah schickt Handyvideos, in denen Frauen Schulter an Schulter marschieren, Sanktionen gegen Pakistan fordern und «Freiheit, Freiheit» skandieren. Auf der anderen Strassenseite lauern in den Videos die Taliban, sie kommen herüber, die Bilder verwackeln, die Frauen laufen, Schreie.
«Wir sind verprügelt worden», schreibt Samira Khairkhwah in einer Textnachricht an die Redaktion Tamedia. Ob sie noch Hoffnungen in die Zukunft ihres Landes setzt? «Das hätte ich, wenn uns unsere Freiheit geblieben wäre.» Aber aufgeben, das ist keine Option für die junge Frau.
«Die Taliban sollen wissen, dass wir Frauen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werden.»
Jamila Azimi, die Anwältin und Aktivistin aus Herat, schreibt: «Wir werden nicht still sein, selbst wenn einige von uns getötet werden. Wir planen die nächsten Aktivitäten.» In der offiziellen Erklärung des Taliban-Innenministeriums heisst es: Niemand dürfe im Moment Proteste organisieren. Bei Verstössen drohten erhebliche Strafen. Als Grund führen die Taliban an, dass in den vergangenen Tagen einige Menschen die öffentliche Ordnung gestört und Menschen belästigt hätten.
Belästigt haben die Taliban hingegen die Demonstranten, so schildern es zahlreiche Augenzeugen und Beteiligte, sie teilen Bilder von Menschen, deren Rücken mit roten Striemen übersät sind, Menschen in Blutlachen.
Samira Hamidi von Amnesty International sagt: «Die Taliban haben immer wieder betont, sie würden die Menschenrechte achten, aber diese Behauptung stimmt absolut nicht mit dem überein, was wir im Moment sehen und hören aus Städten im ganzen Land.» Die Menschen, die auf die Strassen gingen, müssten mit «Einschüchterung, Belästigung und Gewalt» rechnen.
Menschen in Afghanistan nicht alleinlassen
Zwar geben sich einige der Taliban-Anführer moderat und haben in den vergangenen Tagen nach Angaben von Aktivistinnen sogar Demonstrationen genehmigt. Aber nur, um dann ein paar Minuten später ihre Fusssoldaten loszuschicken und die Jagd auf die Protestierenden zu beginnen. Nach Azimis Angaben sind bei den Protesten in Herat mindestens drei Menschen gestorben. Das habe sie selbst gesehen.
Wie soll der Westen nun umgehen mit einer Regierung, die von der Meinungsfreiheit nichts hält und deren Anhänger auf Gewalt gegen Demonstranten setzen? Die Journalistin Qudsia Shujazada aus der nordafghanischen Stadt Mazar-i-Sharif sagte heute bei einer von der Berliner Organisation Yaar veranstalteten virtuellen Medienkonferenz: «Die Taliban sollten nicht diplomatisch anerkannt, aber die Menschen in Afghanistan auch nicht alleingelassen werden.» Sie traue der internationalen Gemeinschaft nach wie vor zu, nun eine Strategie zu entwickeln, um Druck auf die Taliban auszuüben, gleichzeitig aber der notleidenden Bevölkerung zu helfen – denn es droht eine Hungerkatastrophe. (Lesen Sie zum Thema den Artikel «Afghanistans Not stürzt den Westen ins Dilemma».)
In sechs Provinzen, so berichten es die afghanischen Aktivistinnen, habe es in den vergangenen Tagen Proteste gegen die neuen Machthaber in Kabul gegeben. «Die Taliban sollen wissen, dass wir Frauen bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werden. Denn was wollen sie machen: einfach die Hälfte der Bevölkerung umbringen?» Das fragt die nordafghanische Aktivistin Shukria Rahimi. Sie erwartet keine Antwort.
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