Interview mit ÖV-Verbandschef«Wir sind gegen Tempo 30 überall»
Ueli Stückelberger, Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr, erklärt, warum Tempo 30 die Busse ausbremst. Und warum vor allem der ÖV das Klimaproblem lösen kann.
Herr Stückelberger, der Städteverband will flächendeckend Tempo 30 in den Städten einführen. Ist das eine gute Idee?
Es freut uns zwar, dass die Städte nachhaltigen Verkehr möchten – wie wir auch. Es kann aber keine nachhaltige, urbane Mobilität geben, wenn der ÖV nicht attraktiv ist. Wenn der ÖV im Stau steht, gibt es keine smarte Stadt. Wir sind nicht gegen Tempo 30 an sich. Aber wir sind dagegen, wenn man es überall und ausnahmslos einführt.
Warum?
An vielen Quartierstrassen ist Tempo 30 o.k. Es gibt aber ÖV-Hauptachsen, auf denen es Kompensationsmassnahmen braucht, etwa eine Bevorzugung der Trams und Busse bei den Ampeln oder separate Busspuren. Wenn der ÖV langsamer fährt, braucht es unter Umständen mehr Fahrzeuge. Das kann teuer kommen und ist für die Kundinnen und Kunden unattraktiv.
Deshalb sind die Verkehrsbetriebe Zürich dagegen?
In Zürich bräuchte es für etliche Linien ein bis zwei Fahrzeuge mehr. Das wird sehr teuer. Einige Städte gehen pragmatisch vor. Andere sagen: Machen wir mal generell Tempo 30 und schauen dann, was passiert – das lehnen wir ab.
In der Neuauflage des CO2-Gesetzes will der Bundesrat den Umstieg von Diesel- auf Elektrobusse mit rund 40 Millionen Franken pro Jahr fördern. Freut Sie das?
Die Stossrichtung finden wir sehr gut. Es ist wirklich wichtig, dass die Bedeutung der Mobilität in der Klimadiskussion langsam anerkannt wird. Begonnen hat es ja mit den Gebäuden. Der ÖV ist in der Klimadiskussion ein unverzichtbarer Teil der Lösung. Er ist sauber und äusserst energieeffizient – und braucht erst noch wenig Platz, was gerade in den Städten wichtig ist.
Warum muss der Umstieg auf umweltfreundliche Busse gefördert werden?
Alle Unternehmungen sind daran, umzustellen. Ein Elektrobus kostet rund doppelt so viel wie ein Dieselbus. Vor allem in der ersten Phase, wenn es neben dem teureren Bus auch noch Ladestationen braucht. Das ist einfach ein grosser Kostenblock. Wir sind froh, dass der Bundesrat das jetzt sieht. In der Schweiz sind wir im ÖV Vorreiter, aber in diesem Punkt sind wir es nicht. Für einmal waren andere Länder schneller.
Werden die alten Dieselbusse in den Osten oder in die Dritte Welt exportiert, wo sie dann die Luft verpesten?
Das Ziel ist nicht, dass jetzt alle Dieselbusse vorsorglich aus dem Verkehr gezogen werden. Erst wenn sie ersetzt werden müssen, sollen Busse mit umweltfreundlichem Antrieb angeschafft werden. Wenn Dieselbusse in andere Länder exportiert werden, ersetzen sie dort noch viel schlimmere. Aber Achtung: Wir dürfen nicht glauben, wir seien so viel besser. In Polen zum Beispiel war bereits 2019 der Anteil der Elektrobusse dreimal höher als in der Schweiz.
Im CO2-Gesetz sind auch jährlich 30 Millionen Franken für den Anschluss an die internationalen Zugverbindungen vorgesehen. Das ist ein Tropfen auf den heissen Stein.
Nein, es ist ein ganz wesentlicher Beitrag. Es braucht neue, attraktive Angebote, die zwar einen grossen volkswirtschaftlichen Nutzen bringen, aber wahrscheinlich nicht vom ersten Tag an kostendeckend sind. Nicht zuletzt dank der Klimadiskussion wird der internationale Zugverkehr immer stärker nachgefragt.
Viele Menschen nehmen höhere Kosten und längere Reisezeiten in Kauf, um die Bahn statt das Flugzeug zu nehmen. Aber wenn die Bahnen im Jahr 2023 immer noch kein anständiges grenzüberschreitendes Ticketing aufziehen können, fliegen sie halt doch. Was läuft da schief?
Im Flugzeug kauft man immer einen bestimmten Platz. Im Zug haben wir in der Schweiz ein offenes System, bei dem man ein Billett kauft, das nicht an einen bestimmten Zug gebunden ist. In jedem Land ist das ein bisschen anders. Hätte es im ÖV nur noch reservierte Plätze, wäre ein einfacheres Ticketing möglich. Aber aus Schweizer Sicht wäre das nicht ideal. Der Vorteil des ÖV ist ja gerade die zeitliche Flexibilität, die ich im Flieger nicht habe. Ich kann nicht einfach ein früheres Flugzeug nehmen, dafür kann ich einfacher buchen. Im ÖV habe ich diese Flexibilität, da es keine Reservationspflicht gibt, dafür ist das Buchen schwieriger.
GLP-Nationalrätin Katja Christ kritisiert, die Schweiz vernachlässige die Geschwindigkeit, während rund um uns Hochgeschwindigkeitsnetze gebaut werden. Stimmt das?
Für den ÖV in der Schweiz ist die Geschwindigkeit nicht der relevanteste Punkt. Wenn schon, wäre es die Reisezeit von Tür zu Tür. Dies gilt besonders im Pendlerverkehr, dort sind wir auch gut aufgestellt. Im Freizeitverkehr hat die Bequemlichkeit – habe ich Platz fürs Gepäck, muss ich umsteigen, gibt es Direktzüge? – einen mindestens so hohen Stellenwert wie die reine Reisezeit. Ausserdem hat die Reisezeit etwas an Bedeutung verloren, seit man im Zug bequem arbeiten kann. Es ist keine verlorene Zeit mehr. Ein «Zeitgewinn» von wenigen Minuten ist nicht matchentscheidend.
Beim Internet im Zug haben wir ein Problem, ebenso beim Gepäck. Im österreichischen Railjet gibts am Wochenende immer Platz für einen Koffer, im schweizerischen Intercity fast nie.
Wir haben da eine grundsätzliche Herausforderung. Unser Rollmaterial fährt die ganze Woche, das ist auch ökonomisch richtig. Montag bis Freitag sind möglichst viele Sitzplätze gefragt, am Wochenende braucht es mehr Raum fürs Gepäck. Deshalb plant die SOB jetzt Wagen mit Abteilen, aus denen am Wochenende Sitzplätze entfernt werden können, damit mehr Platz fürs Gepäck entsteht.
«Wir können es uns nicht leisten, überall bei jedem Wunsch gleich eine neue Strecke zu bauen.»
Eine weitere Forderung aus dem Parlament ist das Verkehrskreuz Schweiz – völlig neue Verbindungen von Nord nach Süd und von Ost nach West. Was halten Sie davon?
Man muss das Bahnnetz punktuell und bedürfnisorientiert weiterentwickeln. Die Situation ist nicht überall gleich. Wir haben nicht genug Geld für Neubaustrecken im ganzen Land. Also müssen wir schauen, wo der Nutzen für die Kundinnen und Kunden am grössten ist.
Wie zum Beispiel?
Es gibt jetzt am Wochenende eine neue Verbindung der BLS von Biel ins Berner Oberland. Der Zug kürzt ab und umfährt Bern via Zollikofen und Ostermundigen. Damit gewinnt man Zeit, das ist direkt, umsteigefrei und attraktiv. Ein anderes Beispiel ist die direkte Verbindung von Freiburg nach Verbier. Nicht für jedes neue Angebot muss man eine neue Linie bauen, es gibt eben auch andere Möglichkeiten. Wir können es uns nicht leisten, überall bei jedem Wunsch gleich eine neue Strecke zu bauen.
Ein weiteres Dauerärgernis ist die Pünktlichkeit. Eine Tamedia-Datenauswertung hat gezeigt, dass auf der Paradestrecke zwischen Zürich und Bern während der Pendlerzeiten jeder fünfte Zug zu spät ankommt.
Man ist sich dessen bewusst und versucht stetig, die Pünktlichkeit zu verbessern – mit Erfolg. Das Grunddilemma ist aber: Wir haben ein extrem ausgelastetes Netz – wenn ein Zug Verspätung hat, trifft es viele andere Züge auch – und bauen es gleichzeitig noch aus. Das ist störungsanfällig, und wenn es zu einer Störung kommt, wird diese weitergegeben. Auf einem weniger gut ausgelasteten Netz betrifft sie nur den einen Zug. Das ist in der Schweiz nicht so.
Was tun Sie dagegen?
Eine Massnahme ist, dass sich die Bahnunternehmen mit neuen Baustellen zurückhalten, um nicht zu viele Störungen auf dem Netz zu riskieren. Das ist vernünftig. Dafür dauert es dann länger, bis die Neubauten fertig sind.
«Es wird auch ein neues Sortiment kommen, das auf die Freizeitbedürfnisse von Jugendlichen bis 25 zugeschnitten ist.»
Warum sind die Züge in der Westschweiz besonders unpünktlich?
Das Hauptproblem liegt zwischen Genf und Lausanne. Es gibt einfach nur eine einzige Strecke ohne Umfahrungsmöglichkeit. Die Region ist dicht besiedelt, alle Ortschaften dazwischen haben ebenfalls viele Kunden. Und gleichzeitig baut man die Strecke um. Der Totalumbau des Bahnhofs Lausanne ist ein gigantisches Projekt. Es ist wie eine Operation am offenen Herzen.
Die SBB lösen das Problem, indem sie einfach längere Fahrzeiten ankündigen – ein Buebetrickli?
Es tönt nach einem Buebetrickli, ist aber keins, denn am wichtigsten ist Zuverlässigkeit. Unter dem Strich bringt es mehr, wenn man die Fahrzeit um ein, zwei Minuten verlängert, dafür aber weiss, dass der Anschluss gewährleistet ist.
Die neue Gemeinde-Spar-Tageskarte hat nicht gerade Begeisterungsstürme ausgelöst. Sie gilt als kompliziert und mit bis zu 59 Franken teuer. Lockt das die Leute wirklich in den ÖV?
Ja, das glaube ich. Jede Veränderung im ÖV beinhaltet auch eine Abschaffung von etwas Altbewährtem. Es können nie alle zufrieden sein. Dass das neue Produkt jetzt auch – aber nicht nur – digitaler wird, kommt vielen entgegen. Es gibt aber nicht nur das. Es wird auch ein neues Sortiment kommen, das auf die Freizeitbedürfnisse von Jugendlichen bis 25 zugeschnitten ist.
Was für eins?
Dazu kann ich noch nichts verraten, es ist aber attraktiv! Man macht sich viele Überlegungen, um gerade im Freizeitverkehr mehr Leute in den ÖV zu bringen.
«Persönlich bin ich ebenfalls der Meinung, dass die bestehenden GA-Kundinnen und -Kunden etwas mehr Wertschätzung verdient hätten.»
Die Züge sind noch immer nicht so voll wie vor der Pandemie. Erreichen Sie bald wieder Frequenzen wie zuvor?
Ja, ich bin sehr zuversichtlich. Vor einem Jahr hätten wir nie gedacht, dass wir heute wieder da stehen, wo wir sind. Wir sind praktisch auf dem Niveau von 2019, wenn auch noch nicht ganz. Es gilt zu bedenken, dass im vergangenen Jahr viele grosse Unternehmen noch Homeoffice angeordnet hatten. Es fehlen auch noch die asiatischen Touristen. So betrachtet sind wir auf einem ganz schön hohen Niveau.
Warum versuchen die SBB dann, neue Kunden und Kundinnen fürs GA zu gewinnen, indem sie ihnen Rabatte bis 500 Franken gewähren, während die bestehenden den vollen Preis zahlen müssen? So verärgern sie doch die treuesten Kunden.
Der Anspruch lautet: Wir wollen die ehemaligen GA-Kundinnen und -Kunden zurückgewinnen und neue gewinnen. Aber persönlich bin ich ebenfalls der Meinung, dass die bestehenden GA-Kundinnen und -Kunden etwas mehr Wertschätzung verdient hätten.
Wie beurteilen Sie den Kurs der SBB unter Vincent Ducrot: Weniger Luftschlösser, aber auch weniger Entwicklungen?
Ich sehe es positiv. Es gibt eine Ruhe, man fokussiert sich auf die Bahn. Es gibt sehr wohl Entwicklungen. Die gesamte Branche sucht die Innovation wieder näher beim Produkt. Eine Innovation ist zum Beispiel der Direktzug von Genf nach Chur oder Verbier, bei dem man nicht umsteigen muss, wenn man in die Ferien will. Dies tönt zwar banal. Dem Kunden und der Kundin bringt das aber mehr als Ideen für ein Lufttaxi – jetzt und nicht erst in 20 Jahren.
Haben Sie schon einen Antrittsbesuch beim neuen Verkehrsminister Rösti absolviert?
Noch nicht. Wir haben aber klare Erwartungen an ihn: Dass er die Bedeutung des ÖV sieht und bereit ist, ihn weiterzuentwickeln. Bis jetzt hat das jeder Vorsteher und jede Vorsteherin des Verkehrsdepartements getan. Der ÖV hat eine derart grosse Bedeutung in der Stadt, der Agglomeration und auf dem Land und gehört so zur Swissness, dass man fast nicht gegen seine Weiterentwicklung sein kann. Dass uns Bundesrat Rösti enttäuscht, kann ich mir deshalb nicht vorstellen.
Als Berner Nationalrat unterstützte Rösti einen raschen Bau des Grimseltunnels. Braucht es dieses 600 Millionen Franken teure Loch für Bahn und Strom?
Ich bin skeptisch. Bei jedem Bauvorhaben ist entscheidend, ob es möglichst vielen Menschen etwas bringt. Zuerst muss man Kapazitätsengpässe beseitigen. Der Raum zwischen dem Obergoms und Innertkirchen ist nicht gerade das verkehrsintensivste Gebiet. Folglich habe ich kein Interesse daran, dass der Grimseltunnel vorgezogen wird. Da ist dann der Vollausbau des Lötschberg-Basistunnels viel wichtiger.
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