Besuch in Kiew«Wir müssen den Ukrainern zeigen, dass Europa bei ihnen ist»
Das neue EU-Spitzenpersonal Kaja Kallas und António Costa verbringt den ersten Arbeitstag in Kiew. Der Besuch ist eine Geste der Solidarität – aber auch ein Zeichen der Nervosität wegen Donald Trump.
- Kaja Kallas ist seit Sonntag hohe EU-Beauftragte für Aussen- und Sicherheitspolitik.
- António Costa ist der neue EU-Rats-Präsident.
- Costa und Kallas reisten symbolisch nach Kiew, um Solidarität mit der Ukraine zu zeigen.
- Der Besuch brachte keine neuen militärischen oder finanziellen Hilfszusagen der EU mit.
- Selenski will Frieden, fordert aber die Nato-Mitgliedschaft für unbesetzte Gebiete der Ukraine.
Man könnte es eine politische Metamorphose nennen: Als António Costa und Kaja Kallas am Samstagabend in der ostpolnischen Stadt Przemyśl in den Nachtzug nach Kiew stiegen, waren sie rein formell gesehen zwei einfache Bürger der Europäischen Union. Streng genommen sogar arbeitslos.
Als der Portugiese und die Estin den Zug am Sonntagmorgen in der ukrainischen Hauptstadt wieder verliessen, waren sie hingegen zwei der wichtigsten Vertreter der Union: der neue EU-Rats-Präsident und die neue Hohe Beauftragte für Aussen- und Sicherheitspolitik. Nach einem Nominierungs- und Bestätigungsprozess, der mittlerweile seit Monaten läuft, hatten die Amtszeiten von Costa und Kallas auf dem Weg offiziell begonnen – pünktlich um Mitternacht Brüsseler Zeit, der Zug liess da gerade Lwiw hinter sich.
Das war natürlich alles andere als Zufall. Der Wechsel an der Spitze der EU sollte, so hatten Costa und Kallas es vereinbart, mit einer unmissverständlichen Geste der Solidarität mit der Ukraine einhergehen. Und was könnte ein stärkeres Symbol sein, als den ersten Tag im neuen Amt, noch dazu ein Sonntag, nicht gemütlich im friedlichen Brüssel zu verbringen? Sondern in Kiew, einer der ukrainischen Städte, auf die Russland seit Wochen ohne Unterlass Bomben, Raketen und Drohnen feuert? Das war auch an diesem Sonntagmorgen so: Als der Zug in den Bahnhof von Kiew einfuhr, war gerade erst der Alarm aufgehoben worden, die ukrainische Luftverteidigung hatte einige russische Drohnen abgeschossen.
«Die Lage auf dem Schlachtfeld ist sehr, sehr schlecht», sagte Kallas auf dem Weg nach Kiew. «Wir müssen den Ukrainern zeigen, dass Europa bei ihnen ist.» Ähnlich begründete Costa die gemeinsame Reise. «Wir kommen mit der klaren Botschaft: Wir stehen weiter hinter der Ukraine und geben ihr finanziell, militärisch, humanitär und wirtschaftlich unsere volle Unterstützung», sagte er.
Mehr Symbol als konkrete Hilfe
Wie schlecht die Lage an der Front ist, davon bekamen Costa und Kallas kurz nach ihrer Ankunft ein eindrückliches Bild. Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz im Herzen Kiews, auf dem ein Himmel lastete, der so grau und schwer war wie eine Bunkerdecke aus Beton, besuchten sie ein Denkmal für gefallene Soldatinnen und Soldaten. Tausende gelb-blaue Fähnchen stecken dort im Boden, dicht an dicht, auf jedem ein Name und zwei Daten: der Geburts- und der Todestag. Die Besucher aus Brüssel wurden von Veteranen empfangen, die ihnen versicherten, dass sie dankbar seien für all die Unterstützung aus Europa und die Ukraine weiterkämpfen werde. Costa und Kallas revanchierten sich mit dem Versprechen, dass die EU dem überfallenen Land weiter zur Seite stehen werde.
Allerdings ändern diese Solidaritätsbekundungen nichts daran, dass der Besuch zunächst mehr symbolische als handfeste Bedeutung für die ukrainische Regierung hat. Denn neue militärische oder finanzielle Hilfszusagen brachten Costa und Kallas nicht mit. Dazu gibt es noch keine neuen Beschlüsse der EU-Regierungen. Zuletzt hatte die EU im Herbst gemeinsam mit den USA einen Kredit in Höhe von 50 Milliarden Dollar für die Ukraine freigegeben. Das Darlehen soll aus dem in Europa eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank finanziert und über die kommenden Jahre gestreckt ausgezahlt werden.
Der Besuch aus Brüssel ändert auch nichts daran, dass die drängendste Frage, die derzeit die Zukunft der Ukraine überschattet, noch immer nicht beantwortet ist – und von den Europäern auch gar nicht beantwortet werden kann: Seit in den USA Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewonnen hat, wird in Brüssel und den Hauptstädten der EU-Länder gerätselt, wie der künftige US-Präsident mit Russland und der Ukraine umgehen wird. Womöglich, so Kallas, sehe Trump ja ein, dass ein Sieg Russlands in der Ukraine auch ein Sieg Chinas, des Iran und Nordkoreas sei, die Moskau unterstützten. Und das könne nicht im amerikanischen Interesse sein, sagt sie.
Selenski zu Feuerpause bereit
Die grosse Sorge in Brüssel – und wohl auch in Kiew – ist allerdings, dass Trump eben doch über die Köpfe der Ukraine und der EU hinweg mit dem russischen Diktator Wladimir Putin einen Deal vereinbart, der eine Waffenruhe erzwingt. Und dann – wie es ein europäischer Regierungsvertreter formuliert – «uns das Problem vor die Füsse wirft». Ohne amerikanische Beteiligung ist es für die Europäer allerdings kaum möglich, die Ukraine weiter so zu unterstützen, dass sie sich gegen die russischen Invasoren wehren kann. Ebenso wenig kann Europa allein dem Land die Sicherheitsgarantien geben, die notwendig sind, um die Kämpfe zu unterbrechen oder gar dauerhaft zu beenden. Eine Waffenruhe, von der Trump redet, böte unter diesen Umständen nur Russland die Möglichkeit, seine Armee zu verstärken und zu reorganisieren.
Diese Überlegung dürfte ein Grund dafür sein, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der sich bisher immer gegen eine Waffenruhe ausgesprochen hat, nun nach eigenen Angaben zu einer Feuerpause bereit ist. Das klingt, als sei er zu dem Schluss gekommen, er müsse Trump ein Zugeständnis machen. Allerdings koppelt Selenski dieses Zugeständnis an die Aufnahme der nicht von Russland besetzten ukrainischen Gebiete in die Nato. Wenn Kiew sich schon ins Unausweichliche fügen müsse, dann könne es zumindest einen möglichst hohen Preis fordern, beschreiben Diplomaten Selenskis Logik.
Der unbesetzte Teil der Ukraine, der in die Nato aufgenommen würde, stünde nach diesem Plan dann unter dem Schutz der Allianz, also auch der Vereinigten Staaten. Schon nächste Woche, beim letzten Aussenministertreffen der Nato, an dem die USA noch nicht von einem von Trump ernannten Minister vertreten würden, solle die Ukraine eine Beitrittseinladung erhalten, fordert Selenski.
Kallas glaubt an Nato-Mitgliedschaft
Auch Kallas ist davon überzeugt, dass eine Waffenruhe – oder auch eine verhandelte Friedenslösung – in der Ukraine in der Praxis nur dann glaubwürdig abgesichert werden kann, wenn die Nato das Land aufnimmt und dessen Sicherheit vor Russland garantiert. «Es wird jetzt viel spekuliert, was passiert, wenn dies oder das passiert. Wer sichert dann den Frieden?», sagt sie. «Ich bin da ganz klar: Die stärkste Sicherheitsgarantie ist die Nato-Mitgliedschaft. Alle anderen Dinge sind nicht so eindeutig.»
Die Entsendung einer europäischen Schutztruppe, wie sie in manchen politischen Kreisen diskutiert wird, sieht Kallas hingegen eher skeptisch – eine Meinung, die militärisch durchaus realistisch sein dürfte, die aber für die ranghöchste Sicherheitspolitikerin der EU trotzdem bemerkenswert ist. Das mag auch daran liegen, dass Kallas den Rollenwechsel von der Regierungschefin des stolzen – und gut vor Russland geschützten – Nato-Mitglieds Estland zur Aussenbeauftragten der Europäischen Union vielleicht noch nicht ganz vollendet hat. Eine Fahrt im Nachtzug von Przemyśl nach Kiew reicht dafür wohl auch nicht.
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