WintersportSkifahren: Verfluchter Spass
Unser Autor stand jeden Winter auf den Brettern, die die Winterwelt bedeuten. Jetzt fragt er sich plötzlich: Soll ich wirklich noch?
Was das Skifahren angeht, habe ich vermutlich einen leichten Erbschaden. Mein Vater stammt aus Kitzbühel. In meinen Winterferien als Stadtbub bei der Bergoma lag ich unter dicksten Daunen, die aussahen wie der Schnee draussen vor der Tür, nämlich dick, wolkig und steif wie Schlagrahm.
Übers Skifahren wurde damals eher wenig geredet, so wenig wie im Flachland übers Spazieren. Das Einzige, was mein Vater mir je übers Skifahren erzählt hat, war, dass es in seiner Schulzeit als Mutprobe galt, die berühmte Streif auf Langlaufskiern herunterzufahren. Er selbst pflegte jenen eleganten Stil autochthoner Bergmenschen, mühelos auf kleinstem Radius wedelnd mit zwei Meter langen, uralten Latten.
Man sieht diese Art des Skifahrens heute nicht mehr allzu oft, das minimalistische Parallelfahren ist einer breitbeinigen, raumgreifenden Ausholbewegung gewichen, als ob heute die Pisten breiter und leerer wären als früher. Das klassische Wedeln war eine grazile Art der Fortbewegung, Carven hingegen ist eine laute Sportpose, die Material, Piste und Sehnen gleichermassen ausreizt. Als hätte er diese kommende Verrohung vorausgeahnt, entschied sich mein Vater Mitte der Neunzigerjahre von einem Tag auf den anderen, mit dem Skifahren aufzuhören. Weil es ihn nicht mehr freute. Er liess die museumsreifen Bretter einfach an der Talstation im Skiständer stehen und drehte sich nicht mehr danach um. Ein Ereignis, das mir damals ungeheuerlich vorkam.
Skifahren ist wie Fleischessen: Es gilt als nicht mehr zeitgemäss.
Dreissig Jahre später stellt sich mir und vielen Skifahrern jeden Winter drängender die Frage, ob das alles noch Leichtigkeit hat und in einem Verhältnis steht. Also die Freude und der damit verbundene Aufwand. Und wenn man Aufwand sagt, meint man damit je nach Stimmung zweierlei. Einmal den abstrakten Aufwand, mit dem Pisten, Lifte und Infrastruktur in die Landschaft geklotzt werden.
Und dann der konkrete, individuelle Aufwand eines normalen Skitags, bei dem Ausrüstung, Logistik und die kontinuierlich anfallenden Kosten jedes Jahr grössere Fragezeichen aufwerfen. Man muss kein besonders begabter Misanthrop sein, um während so einer samstäglichen Anbahnung alles an der Idee zu verfluchen. Wie man da mit Helm und Brille, mit Rucksack, Schal, Sonnencreme und Taschentüchern beladen vom letzten freien Parkplatz Richtung Kasse stolpert, die Wolken und die kümmerlichen Schneemengen ebenso ausblendend wie die lange Reihe der Wartenden an der Gondel, mit denen man die nächsten Stunden immer wieder warten wird: vor den Sesselliften, vor der Essensausgabe und schliesslich, müde auf dem Heimweg, auf dem Autobahnzubringer. Wie man dieses ganze Warten, Bezahlen, Befördertwerden erträgt, um letztlich fünfzehnmal zwecklos den Berg rauf- und runterzueiern, wie so ein Freizeit-Sisyphos.
Abgesehen von diesem privat empfundenen Irrsinn ist das Skifahren in den vergangenen Wintern Gegenstand jenes gesellschaftlichen Diskurses geworden, der unsere Gewohnheiten auf den moralisch-ökologischen Prüfstand stellt. Und genau wie für das Fleischessen, das Autofahren, das Mopshalten und hundert andere Ideen vergangener Generationen wurde auch für das Skifahren festgestellt, dass es für aufgeklärte Menschen eigentlich kein sonderlich zeitgemässes Vergnügen mehr ist.
Mit 40 km/h eine Linie in den Berg zu zeichnen, die so kein anderer fährt, ist eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Allerdings, und hier sind wir beim kritischen Punkt, ist das Vergnügen eben unbestreitbar gross. Und zwar trotz aller selbst empfundener Widrigkeiten. Soll heissen, hat man den ganzen Ärger und die Baumgrenze hinter sich gelassen, den 75-Franken-Skipass verschmerzt, Sonne und Schnee zufällig im richtigen Mischungsverhältnis erwischt und ist womöglich auch die Piste halbwegs frei, lässt sich der ganze Aufwand mühelos vergessen. Skifahren vereint in diesen idealen Minuten dann Naturerlebnis und Koordination, Eleganz und Sport, Geschwindigkeit und Technik und darüber hinaus noch etwas, das nicht ganz genau zu benennen, aber vielleicht eben in Wolfgang Ambros’ Hymne auf das «Schifoan» herauszuhören ist – ein spezielles Freiheitsgefühl.
Es hat vermutlich mit der Erhabenheit der Berge zu tun, mit der Alpenluft, der Fernsicht. Mit Durchatmen und Drüberstehen. Vielleicht aber auch mit der freien Routenwahl, die ein Skifahrer im Hang hat: Fast alles in unseren Leben verläuft auf klar begrenzten Pfaden und Wegen; eine breite Piste überlässt die Pfadfindung aber ganz dem Willen des Einzelnen. So mit beschwingten 40 km/h seine persönliche Linie in den Berg zu zeichnen, einen eigenen Weg ins Tal zu finden, den so kein anderer fahren wird, das ist eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Was es ausserdem sehr vielen schwer macht, auf die Idee von sich in Skischuhen zu verzichten, sind die Kindheitserinnerungen die mitschwingen, wenn sie das Klacken der Bindung hören. Eben, weil über Jahrzehnte das Skifahren Standard war, inklusive Verankerung in der eigenen Biografie. So viele Erinnerungen an Familienausflüge, an Ferien und Skilager sind sehr innig mit diesem Sport verknüpft, er hat eine sentimentale Langzeitwirkung.
Also ja, ein einziger gelungener Skitag hat – leider? – die Kraft, den ganzen Wahnsinn subjektiv wieder zu rechtfertigen, und lässt einen weiterhin die Schneehöhen in den diversen Tälern checken. Das beschriebene individuelle Glücksversprechen ist aber gleichzeitig auch ein Problem des modernen Massen-Skisports. Es fährt heute in jeder Gondel ein ungeheurer Erwartungsdruck mit, weil jeder eine Erlebnisagenda mit hinaufschleppt, bis hin zum bitte schön stimmungsvollen Instagram-Beweisfoto. Gerade weil es immer seltener genug Schnee und genug Platz für alle hat und weil die Aufenthalte in den Skiorten kostenbedingt immer kürzer werden, gehört heute Aktivstress zu den dauerhaften Begleiterscheinungen des Skifahrers. Noch mehr, seit bei manchen im Hinterkopf konstant mitschwingt, es könnte das letzte Mal sein, die letzten Skiferien, der letzte Skitag.
Skifahren könnte in die Geschichtsbücher eingehen als Symptom einer allzu sorglosen Wohlstandsgesellschaft – genau wie All-You-Can-Eat-Buffets.
Sicher, auch andere Sportarten sind aufwendig, erfordern Gelände, Geräte, Landschaftseingriffe. Aber es kommt halt schon einiges zusammen, wenn Millionen von Menschen, die statistisch zumindest gelegentlich mal Ski fahren, auf ihre Kosten kommen müssen. Für eine derartige Masse ist der alpine Skisport eigentlich viel zu kompliziert. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Zahl der Kollisionsunfälle beim Skifahren seit 15 Jahren kontinuierlich ansteigt. Und diesen Winter poppten da und dort schon die Schlagzeile auf, das Skifahren entwickle sich zu einem Hobby der Privilegierten.
Was, wenn mans positiv betrachtet, zumindest den Massencharakter des Skifahrens ändern könnte. Wenn in den kommenden Jahren weniger Kinder mangels Gelegenheit das Skifahren lernen, mehr Menschen für sich das Fazit ziehen, dass es für sie nicht mehr infrage kommt, wenn kleine Skigebiete ohne Schnee ausscheiden, könnte sich der Skisport langfristig in eine halbwegs gesunde Nische zurückschrumpfen. Seine Hochphase wird dann in die Geschichtsbücher eingehen als Symptom einer allzu sorglosen Wohlstandsgesellschaft, genau wie Billigfluggesellschaften und All-You-Can-Eat-Buffets.
Vielleicht muss das für die alpinen Destinationen aber keine Depression bedeuten. Zu Beginn des ganzen Zirkus, also vor gerade mal hundert Jahren, war das Skifahren ja auch nur eine von vielen Lustbarkeiten der Winterfrische. Die Menschen glitten auf Kufen übers Eis, legten sich bäuchlings auf Schlitten, machten dampfende Wanderungen – und erfanden dazu eben jeden Winter irgendwas Neues, das sie ans Kindsein erinnerte.
Fehler gefunden?Jetzt melden.