WeltkulturerbeDie vielleicht schönste Stadt Belgiens
Brügge ist im Winter besonders reizvoll. Auch weil man dann die mittelalterlichen Gassen ein bisschen für sich allein hat.
Eine Stadt wie Brügge kennt den Fluch der Schönheit: ein mittelalterliches Stadtbild, lauschige Kanäle, Windmühlen auf grasbewachsenen Wallanlagen … Logisch kommen da Touristen in Scharen.
Heute gehört die westflämische Beauty zum Weltkulturerbe. Vor ein paar Hundert Jahren gehörte sie indes noch zu Burgund, und dessen Herzöge zeigten ihren Reichtum gern. Im 15. Jahrhundert galt Brügge als reichste Stadt Flanderns, dank der Spezialisierung auf Luxusprodukte und aufgrund des direkten Zugangs zur Nordsee. Als Letzterer im 16. Jahrhundert immer mehr versandete, gings allerdings stetig bergab. Auch an der Industrialisierung schrammte die Stadt vorbei, neue wirtschaftliche Perspektiven entstanden erst mit der Eröffnung des Seehafens von Zeebrugge 1907. Heute profitiert Brügge gerade davon, dass jahrhundertelang nichts passiert ist: Der Blick zurück in die Vergangenheit bleibt unverbaut.
Das wollen nun sehr viele Menschen sehen. Erlebnisse abseits der Massen sind dennoch möglich, gerade im Winter. Oft nur wenige Meter von den Hauptattraktionen entfernt, liegen einsame, kopfsteingepflasterte Gassen. Mönche bieten stille Nachtquartiere. Und ganz im Osten der Stadt lockt das gemütliche Sint-Anna-Viertel mit Arbeiterhäuschen und sonntäglicher Beschaulichkeit, auch unter der Woche.
Biergulasch in der ältesten Beiz der Stadt
«… und ich hörte so gern die Vögel zwitschern»: Das sollen die letzten Worte von Guido Gezelle gewesen sein. Der wichtigste flämische Dichter des 19. Jahrhunderts wurde in einem Gärtnerhaus geboren, noch heute steht der hübsche Klinkerbau, das Gezellehuis, hinter hohen Mauern versteckt in einem zauberhaft angelegten Garten. Im Sint-Anna-Viertel lässt sich die leise Wehmut des Priester-Poeten mehr als hundert Jahre nach seinem Tod noch immer nachvollziehen, denn Vogelgezwitscher begleitet auch heutige Spaziergänger durchs ruhige und grüne Quartier.
Man kann vom Gezellehuis zum ältesten noch bestehenden Wirtshaus der Stadt flanieren, dem Café Vlissinghe, wo seit 1515 eingekehrt wird, mit einem Gastraum wie aus dem Bilderbuch, die Wände voll volkstümlicher Artefakte. Und Stoofvlees bestellen, also Biergulasch, natürlich mit Pommes frites – Comfort-Food auf Belgisch.
Und dann: Auf zu einem Verdauungsspaziergang, vielleicht zum stillen Kanal Gouden-Handrei, ausgehoben im 12. Jahrhundert und Teil der ersten Stadtmauer von Brügge. Heute gehen Studierende des renommierten College of Europe genau dort ein und aus, wo der spätmittelalterliche Maler Jan van Eyck sein Atelier- und Wohnhaus hatte.
Als Brügge noch die Stadt der Händler und wichtigster Finanzplatz Europas war, begründete der einstige Hofmaler des Herzogs von Burgund wohl genau hier die profane Malerei. Malte er doch nicht mehr nur Vertreter aus Adel und Klerus, sondern auch seine Kollegen: Sein Gemälde eines Goldschmieds aus Brügge gilt als erstes Porträt einer nicht adeligen Person im europäischen Mittelalter überhaupt (es befindet sich heute allerdings nicht in Brügge, sondern im Kunsthistorischen Museum in Wien). Dank van Eycks Datierung steht auch fest, dass Brügge sich bereits 1436 als Stadt der Kunsthandwerker begriff. Doch dazu später mehr.
Ein Besuch zu Hause bei echten Grafen
Dass Brügge im 19. Jahrhundert von einer neuen Besuchergruppe – den Touristen – entdeckt wurde, ist einer der vermutlich ersten konzertierten Stadtmarketing-Offensiven überhaupt zu verdanken. Unternommen wurde sie für die Briten, die Brügge zunächst nur als Etappenziel auf ihrem Weg nach Waterloo aufsuchten. Der findige Stadtrat liess die Stadt im damals brandneuen Architekturstil der Neugotik aufpeppen – um so noch mittelalterlicher zu wirken.
Dadurch gibt es heute kaum einen Ort in Brügge, dessen Spuren des Goldenen Zeitalters der Stadt – das 15. Jahrhundert – nicht übertüncht wurden. Doch in der Domäne Adornes ist er noch unverfälscht zu spüren, der Geist des Âge d’Or.
Die Adornes waren damals eine der bedeutendsten Kaufmannsfamilien. Als wichtigster Spross gilt der 1424 geborene Anselm Adornes, dessen 600. Geburtstag dieses Jahr mit einer Ausstellung über seine Reisen gefeiert wird (ab dem 13. April). Der Politiker und Händler war auch ein Förderer der Kunst – unter anderem besass er zwei Werke Jan van Eycks. Im Jahr 1470 etwa unternahm Anselm eine Wallfahrt ins Heilige Land. Nach seiner Rückkehr liess er, inspiriert von der Grabeskirche, die Jerusalemkapelle als Replikat bauen.
Heute befindet sich das Anwesen in den unermüdlich instand haltenden Händen der 17. Generation. Und die hat es – ausser sonntags, da ist es weiterhin nur Familiensitz – für Touristen geöffnet. Auch die heutige Gräfin, Véronique de Limburg Stirum, zeigt und sammelt junge Kunst in den Hallen der Domäne: Letztendlich, so die studierte Ökonomin, sei ja auch van Eyck im 15. Jahrhundert ein zeitgenössischer Künstler gewesen.
Die Ruhe in Brügges Osten liegt der Domäneherrin am Herzen. Es sei wichtig, die Lebensqualität im Sint-Anna-Viertel für Besucher wie Bewohner zu bewahren. Und auch für die künftigen Besitzer des Landsitzes, ihre drei Kinder. Die 18. Generation der Familiendynastie also – die sich hier weiterhin zu Hause fühlen soll, auch wenn zahlende Gäste auf den Bänkchen am Apfelgarten sitzen. «Schliesslich», sagt die Belgierin, «muss man emotional an ein Haus gebunden sein, um es bewahren zu wollen.»
Ein Stadtplan nur für Handgemachtes
Weiter im Westen der Stadt, in der hübschen Ezelstraat, steht man vor der Hausfassade des Blumenkünstlers Frederiek Van Pamel. Der 50-Jährige hat hier seinen Laden eingerichtet rund um Schnitt- und Seidenblumen und wohnlichen Schnickschnack, Trouvaillen aus aller Welt und eigene Entwürfe. Besonders zu Weihnachten fällt seine üppig dekorierte Hauswand ins Auge.
Dann steht nämlich mitunter sein alter Fiat samt angeschnalltem Tannenbaum im Schaufenster, gerahmt von gigantischen Schleifen, Baumkronen, Glitzerkugeln und Lichterketten an der Fassade. (Van Pamels Winterausstellung im nahen Städtchen Damme wird sogar im nationalen Fernsehen übertragen! «Sfeermaker», Atmosphärenmacher, nennen ihn belgische Journalisten.)
Wer zu so besonderen Adressen wie der Van Pamels finden will, hat es seit etwa einem Jahr recht einfach. Da wurde nämlich im Herzen der Stadt, gleich bei Minnewater und Beginenhof, das Sashuis (Wijngaardplein 14) eröffnet. Im einstigen Schleusenhäuschen hat nun das Label «Handmade in Brugge» seinen Sitz, das lokales Handwerk auszeichnet. Sieht sich die Stadt doch bis heute, nach all den Jahrhunderten als Umschlagplatz von Luxusgütern, als kunsthandwerkliches Zentrum. Das Klöppeln von Spitze, die Ateliers für Kalligrafie, das handgeschöpfte Papier, die Instrumentenbauer: In Brügge sind viele «Makers» am Werk.
Im Sashuis kann man ihre Kreationen kaufen und im Ausstellungsraum Dokumentationen aus den Ateliers anschauen. Oder sich einfach den Handmade-Stadtplan schnappen, in dem alle Mitwirkenden verzeichnet sind, und sich auf die Suche machen nach all den flämischen Designern, Handwerksbetrieben und Genusshandwerkern dieser Stadt. Für den Spaziergang zu Ateliers und Läden gibts aber auch eine App.
Himmlisch schlafen bei den Mönchen
Gleich gegenüber dem Blumenladen von Van Pamel erhebt sich die ornamentierte Klinkerfassade der Karmeliterkirche. Hier lässt sich ganz in Ruhe die Nacht verbringen, in klösterlicher Einfachheit. Seit dem 17. Jahrhundert seien die Karmeliter in Brügge, erzählt Johannes Schiettecatte, während er den Übernachtungsgast durch die Anlage führt: «Von den anderen Geistlichen wurden wir damals nicht so gut aufgenommen, denn es gab bereits einige Orden hier», erläutert der Belgier weiter, «aber von den Einheimischen schon, kümmerten wir uns doch um die Pestopfer.» Bis heute heisse der Eingangsbau deshalb bei den Brüdern Pesthaus: «Vermutlich lebten dort die Geistlichen in Quarantäne.»
Inzwischen kann man sich in die Einsiedelei auch als Tourist zurückziehen – und im einstigen Pesthaus ist die Küche der Klausurgäste untergebracht. Zum Frühstücken findet man alles, nur kein Gegenüber – die Brüder essen woanders. Wer das Pesthaus und den mit Ziegelmauern begrenzten Klausurgarten verlässt und im Klostergarten spazieren geht, begegnet den Männern in braunen Kutten doch, aber gesprochen wird selten. Leben und arbeiten in der Stille ist eine der Ordensgründungsregeln: «Suchende können an der Liturgie der Gemeinschaft teilnehmen oder die Erfahrung des Alleinseins in der Stille machen», erklärt die Website.
Drei Einsiedeleien gibt es im Kloster, das Klausurgebäude mit dem pagodenähnlichen Ziegeldach sei wohl von 1750, erzählt Schiettecatte. Hinter Zierbögen, die eine kleine Loggia bilden, wurde als jüngster Anbau eine Dusche eingebaut. Die übrige Einführung ist schnell getan: zwei kleine Zimmer, der rostrot geflieste Vorraum mit Altar und Kruzifix, der Schlafraum mit Einzelbett, Schreibtisch, schmalem Schrank und einer recht betagten Toilette. Zwei Kakteen am Fensterbrett, ein schlichtes Holzkreuz überm Bett, daneben eine goldhinterlegte Ikone. Durch die Scheiben der hohen Fenster dringt Vogelgezwitscher. Sonst nichts. So geht Stille, mitten in der Stadt.
Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Transportunternehmern und Tourismusagenturen.
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