Preisschock beim NachbarnWien will raus aus dem russischen Gas
In Österreichs Hauptstadt stöhnen die Menschen unter extrem hohen Energiepreisen. Nun kündigt die Stadtregierung einen engagierten Ausstiegsplan an.

Von einer «Mammutaufgabe» spricht der Wiener Bürgermeister. Von einer «Wiener Mondlandung» der Regierungsrat für Umwelt. Wenn die Wiener Stadtregierung Ankündigungen macht, dann meist in Superlativen. So auch beim Ausstieg aus der fossilen Energie. Damit Wien die «lebenswerteste Stadt der Welt» bleibt (so der Bürgermeister), sollen bis 2040 sämtliche Heizungen von Gas auf einen Betrieb ohne CO₂-Ausstoss umgestellt werden.
Engagiert ist dieser «Raus aus Gas»-Plan durchaus. Einzigartig keineswegs. Die Stadt Zürich hat bereits vor eineinhalb Jahren die Umstellung von Heizung und Warmwasser auf erneuerbare Energie bis 2040 beschlossen. Allerdings hat Zürich nur 210’000 Haushalte, Wien hingegen 926’000 mit insgesamt 400’000 Gasheizungen. Zudem sollten in den nächsten Jahren auch die 460’000 Gasherde in der Stadt durch umweltfreundliche Geräte ersetzt werden.
Ausstieg unter enormem Zeitdruck
Dass die Stadtregierung nun den energiepolitischen Turbo zünden will, hat weniger mit der Klimakrise zu tun als mit dem Preisschock der vergangenen Monate. Bis vor einem Jahr war die österreichische Energiepolitik ganz auf Russland ausgerichtet. Ob rot-schwarze oder türkis-blaue Koalitionen: Die Bundespolitiker hofierten Wladimir Putin. Der halbstaatliche Energiekonzern OMV schloss immer engere Partnerschaften mit Gazprom. Das sozialdemokratisch regierte Wien hielt nicht dagegen. Der niedrige Gaspreis war einfach zu attraktiv. Wien habe viel zu lange auf Gas gesetzt und den Umstieg auf erneuerbare Energieformen hinausgezögert, sagt Jasmin Duregger, Energieexpertin bei Greenpeace: «Jetzt ist der Zeitdruck enorm.»
Obwohl es auch private Anbieter gibt, beziehen die meisten Wienerinnen und Wiener Strom und Gas vom kommunalen Anbieter, der Wien Energie. Und gerade dieses städtische Energieunternehmen erhöhte die Preise besonders stark. Bei der Fernwärme wurde der Tarif sogar fast verdoppelt – was ebenfalls mit dem Höhenflug des Gaspreises zu tun hat. Denn gerade im Winter kommt die Fernwärme mindestens zu 50 Prozent aus mit Erdgas betriebenen Heizkraftwerken. Bis 2040 werde der fossile Brennstoff durch Geothermie und Grosswärmepumpen ersetzt, versichert Wien Energie.

Ausgerechnet in einer Stadt, deren sozialdemokratische Regierung sich gern selbst für ihre besonders soziale Politik lobt, trieben die Gaspreise im vergangenen Herbst viele Menschen in den finanziellen Ruin. Die Caritas verzeichnete in dieser Zeit bis zu 30 Prozent mehr Anfragen für Unterstützungen. Und in den Sozialmärkten, in denen Lebensmittel günstig oder gratis abgegeben werden, wurde die Nachfrage so stark, dass die Regale schon kurz nach Öffnung leer geräumt waren.
Um die Not zu mildern, hat Wien einen «Energiebonus» beschlossen. Haushalte mit einem gesamten Jahreseinkommen unter 100’000 Euro bekommen 200 Euro Energiebonus. Insgesamt stellt die Gemeinde Wien dafür 130 Millionen Euro zur Verfügung.
Ein 3-Zimmer-Haushalt muss statt bisher 120 plötzlich 1200 Euro im Monat für die Gasheizung zahlen.
Dabei ist es nicht nur der Markt, sondern auch das von der Stadt kontrollierte Energieunternehmen, das den finanziellen Druck so massiv steigerte. Bei manchen Kunden erhöhte Wien Energie die monatlichen Vorauszahlungen für Gas auf einen imaginären Maximalverbrauch. So musste im Wiener Bezirk Leopoldstadt ein Haushalt mit einer 3-Zimmer-Wohnung statt bisher 120 Euro plötzlich 1200 Euro pro Monat für die Gasheizung zahlen. Bei der Jahresendabrechnung wird das vermutlich eine saftige Rückzahlung ergeben – freilich erst in zwölf Monaten.
Dass der städtische Strom- und Gasversorger sich so ein finanzielles Polster sichern will, ist mit einem weiteren Schock in der Energiekrise erklärbar: Als die Preise im vergangenen Sommer verrückt spielten, brauchte Wien Energie über Nacht 1,7 Milliarden Euro als Sicherstellung auf den Energiebörsen. Der Bürgermeister vergab den Kredit mittels Notverordnung. Ob er dazu berechtigt war und warum der Energieversorger in finanzielle Schräglage geriet, soll nun eine Untersuchungskommission des Stadtparlaments klären.
Die sichere und billige Gasversorgung der Hauptstadt galt einst als eine der grossen kommunalen Errungenschaften. Die vier Gasometer im Arbeiterquartier Simmering waren bei ihrer Erbauung Anfang des 20. Jahrhunderts die grössten Gasspeicher Europas. Damals wurde Gas noch bei der Verkokung von Steinkohle gewonnen. In den 60er-Jahren folgte die Umstellung auf Erdgas.

Energietechnisch profitierte Wien von seiner Lage nahe dem Eisernen Vorhang, denn das neutrale Österreich knüpfte früh wirtschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion. Östlich der Hauptstadt entstand in den 70er-Jahren in Baumgarten der grösste Gas-Knotenpunkt Mitteleuropas. Noch heute wird hier russisches Gas nach Deutschland und Italien geleitet. Und nach Wien.
Knapp vor dem ersten Jahrestag des russischen Einmarschs in der Ukraine verkündet die Wiener Stadtregierung aber doch: «Raus aus Gas.» Ist das bis 2040 zu schaffen? Er sehe im Programm viele Ankündigungen, aber kaum konkrete Massnahmen, sagt der Energieexperte bei den Wiener Grünen, Andreas Gold: «Erst einmal müsste die Stadt die rechtlichen Grundlagen für den Umstieg auf nachhaltige Energieformen schaffen.»
Das Ziel «Klimamusterstadt» wird Wien aber auch mit gelungenem Gasausstieg kaum erreichen. Denn etwa gleich viel CO₂ wie Gasheizungen und Kraftwerke stösst derzeit der Autoverkehr aus. Mit dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs lässt sich die sozialdemokratische Stadtregierung jedoch Zeit. Stattdessen investiert Wien eine halbe Milliarde Euro in den Bau einer neuen Stadtautobahn.
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