Mamablog: Kindlicher AnstandWie Kinder mit unseren Vorurteilen aufräumen
Ignoranz und Vorurteile sind in unserer Leistungsgesellschaft allgegenwärtig. Wir sollten uns die Unvoreingenommenheit unserer Kinder zum Vorbild nehmen, findet unsere Autorin.
Donnerstags kommt bei uns die Müllabfuhr. Und dies immer ungefähr zur selben Zeit. Was mein in den morgendlichen Wahnsinn und die «Never-Ending-To-Do-Spirale» versunkenes Oberstübli in aller Regel vergisst, entgeht meinem Sohn nicht. Niemals. Kaum ist der Müllwagen in Hörweite, spitzt er seine Ohren, reisst die Augen auf, lässt seine ihm sonst heiligen Spielautos im Nullkommanichts links liegen, rast zum Küchenfenster und ruft lauthals «Maaamii chuuuuum!!» Als ob gerade die Air Force One vor unserer Haustür gelandet wäre. Stets leicht verdattert (wie gesagt: «Mami-Brain») brauche ich jeweils einen Moment, um zu realisieren, was da gerade vor sich geht. Aber dann muss es ruckzuck gehen, denn die Frauen und Männer von ERZ sind unglaublich schnell. Da kann es schon mal passieren, dass keine Zeit mehr bleibt, um dem Kind oder geschweige denn mir selbst ein «Jäggli» überzuziehen, sodass wir auch im Winter mal im Pischi am offenen Fenster landen.
Zu beschäftigt oder zu ignorant?
Klar, man könnte dem Geschehen ebenso von drinnen beiwohnen. Nur verkleinert sich dadurch nicht nur unser Blickfeld, sondern es könnte womöglich auch passieren, dass das Entsorgungsteam unser Gewinke gar nicht erst mitkriegt. Und das wäre schade. Denn in den allermeisten Fällen winken sowohl die Fahrer als auch die den Abfall Einsammelnden zurück. Und zwar egal, ob sie im Schnee, Regen oder in der Sommerhitze unterwegs sind. Dies freut meinen Sohn und berührt mein Herz.
So rümpfen wir nicht nur die Nase, wenn wir uns der Kehrichtentsorgung nähern, vielmehr ärgern wir uns sogar noch, wenn diese nur 20 Sekunden den Weg blockiert.
Mit der Freude geht bei mir aber häufig auch eine gewisse Scham einher. Ich frage mich in solchen Situationen, wie ich in all den kinderlosen Jahren derart in den Alltagstrott versunken sein konnte, dass mir entging, wie kinderfreundlich Menschen doch sein können. Und es sind ja auch immer etwa dieselben lieben Leute, die allwöchentlich durch unser Quartier düsen. Ich gebe zu, das hatte ich nicht realisiert. Heute muss ich mich ernsthaft fragen, ob ich zu beschäftigt oder doch auch ein wenig ignorant unterwegs war. Und da bin ich nicht die Einzige, die sich an der Nase nehmen muss.
Mehr Dreck, bitte!
Ignoranz und Vorurteile sind in unserer Leistungsgesellschaft allgegenwärtig. So rümpfen wir nicht nur die Nase, wenn wir uns der Kehrichtentsorgung nähern, vielmehr ärgern wir uns sogar noch, wenn diese auch nur 20 Sekunden den Weg blockiert. Aber was würden wir denn tun, wenn niemand diesen Job machen würde? Genau, Neapel lässt grüssen. Dasselbe gilt für Baustellen, die oftmals nicht in unseren getimten Tagesablauf passen. Dabei können wir einfach nur dankbar sein, dass jemand sich für unsere saubere, funktionierende und sichere Schweiz die Finger schmutzig macht. Und gerade Baustellen üben auf viele Kleinkinder geradezu eine magische Anziehungskraft aus.
Kinder sind uns mit ihrem unvoreingenommenen Geist um Lichtjahre voraus. Ihre Helden brauchen weder schicke Anzüge noch teure Schuhe zu tragen. Im Gegenteil: Bitte mehr Dreck! Und ganz grosse und laute Fahrzeuge, wenns geht. Ein grosses Dankeschön an dieser Stelle an all die Bagger, Betonmischer, Walzen und Lastwagen beziehungsweise an die Menschen dahinter, dass sie ihrem kindlichen Publikum stets freundlich gesinnt sind. Manchmal sogar so fest, dass die Baggerschaufel zum Winken ausholt.
Nichts anderes als Anstand
Mir ist klar, dass es für ein funktionierendes System auch all die Schreibtischtäter braucht. Auch ich gehöre zu dieser Spezies. Allerdings wäre es sehr begrüssenswert, würden diese Menschen auch mal zurücklächeln. Anstatt zum 100. Mal zu checken, ob nicht doch noch eine E-Mail reinkam, bevor sie sich beim Aussteigen aus Bus oder Tram über die Kinderwagen echauffieren.
Ebenso ist mir bewusst, dass die Unvoreingenommenheit meines Sohnes nicht ewig anhalten wird. Dennoch hoffe ich, dass er sich auch in ein paar Jahren noch bei den Chauffeusen und Chauffeuren öffentlicher Verkehrsmittel fürs Mitnehmen oder bei den Autos fürs Anhalten am Fussgängerstreifen bedankt. Dies ist doch nichts mehr als Anstand, den wir unseren Kindern vor- statt nachleben sollten.
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