Mamablog: Ungesunde SelbstaufgabeBei uns ist immer Zweikönigstag!
Leitwölfe gesucht! Unsere Autorin macht sich Gedanken über das grosse Missverständnis bedürfnisorientierter Erziehung.
Ganze 15 Jahre waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, mein Freund Paul und ich. Und nun kreuzten sich unsere Blicke ausgerechnet im Supermarkt über den Dreikönigskuchen, wo er zu «Schokolade» und ich zu «Weinbeeren» griff. Erst als wir uns vor lauter Wiedersehensfreude wieder etwas beruhigten, bemerkte ich die zwei kleinen Kinder an seiner Seite, was mich überraschte: «Du bist Vater?» War doch Paul immer der Typ gewesen, der seine Unabhängigkeit wie einen heiligen Gral verteidigte. Paul beantwortete mein Erstaunen mit einem grinsenden Blick auf seinen doppelten Nachwuchs und sagte: «Unglaublich, gell? Nun ist in meinem Leben an jedem Tag Zweikönigstag!»
Aus seinen Worten drang jene Mischung aus Müdigkeit und Frohmut, die mich an meine eigene Kleinkind-Mutter-Zeit erinnerte. Da klang jenes «Ich bin erschöpft!» in seiner Stimme und gleichzeitig war da der liebevolle Blick auf seine Kinder, der verriet, dass er ein sehr warmherziger Vater ist. Keiner, der in die autoritäre Trickkiste seiner Vorfahren greift, einer dem bewusst ist, wie wichtig es für Kinder ist, sich einzubringen. Einer der bestimmt keine Sätze, wie: «Weil ich es sage!» ausspricht, sondern viel mehr: «Was meinst denn du dazu?»
Doch mein Blick in sein müdes Gesicht löste bei mir die Frage aus, ob Paul sich selbst auch ein solch guter Freund geblieben ist, wie er es einst für mich gewesen war.
Menschen wollen manchmal Unterschiedliches
Auf dem Heimweg dachte ich über Paul und über bedürfnisorientierte Erziehung nach. Ein Weg, den auch ich schätze und der nichts, aber auch gar nichts, mit antiautoritär oder Laisser-faire zu tun hat. Sondern mit der Absicht, Kinder in ihrer eigenen Kraft zu begleiten; im Wissen, wie hoch der Preis ist, wenn wir nur auf Anordnung anderer wissen, was wir wollen, wofür wir uns einsetzen und was zu tun ist.
Nach Jahrhunderten der Unterdrückung von Kindern war es höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel. Auch wenn es deutlich mehr abverlangt, Kinder in ihrem Wesen und ihren Bedürfnissen zu begleiten, als Autorität oder Mach-was-du-willst walten zu lassen. Doch wie so oft, wenn man etwas ganz anders machen will als die Generationen vor einem, läuft man mangels eigener innerer Programme und der Absicht alles richtig gut zu machen, Gefahr, ins Gegenteil zu fallen. Und dieses Risiko sehe ich beim Thema bedürfnisorientierter Erziehung, weil sie das Missverständnis birgt, bedürfnisorientiert bedeute, den Fokus voll auf die Bedürfnisse der Kinder zu legen und die eigenen hinten anzustellen.
Denn das ist das echte Leben, wo es keine Könige gibt, sondern ein Verbund von Menschen, die manchmal Unterschiedliches wollen.
Genau das Gegenteil jener Gleichwertigkeit also, für die sich der – leider viel zu früh verstorbene – dänische Familientherapeut Jesper Juul zeitlebens einsetzte. Er plädierte nämlich stets dafür, dass Erwachsene und Kinder in ihren Bedürfnissen gleichermassen ernst genommen werden. Es geht also keinesfalls darum, jederzeit die Bedürfnisse des Kindes (ausser bei einem Baby) zu erfüllen, sondern diese anzuerkennen und gleichzeitig mit den eigenen in Kontakt zu sein. Auf diese Weise werden Lösungen gefunden, die alle weiterbringen.
Das ist herausfordernd, ja. Doch wir tun weder den Kindern noch uns selber einen Gefallen, frustrierte Gefühle nicht auszuhalten, und uns der Ruhe zuliebe hintenanzustellen. In der Regel ist das auch für Kinder gewinnbringend, sofern Eltern klar von ihren eigenen Bedürfnissen reden und nicht in Allgemeinplätzen. Denn das ist nicht Autorität, sondern das echte Leben, wo es keine Könige gibt, sondern ein Verbund von Menschen, die manchmal Unterschiedliches wollen.
Vom Krone tragen und Frust aushalten
Um also als Eltern wieder Leitwölfe, statt Zudienende zu sein, müssen wir uns immer wieder bewusst mit unseren eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen. Das gibt uns Kraft, diesen Weg zu gehen, damit er nicht in Erschöpfung mündet. Zudem ist das ernst nehmen unserer eigenen Bedürfnisse das pädagogisch Wertvollste, was wir für unsere Kinder – nebst dem Anerkennen ihrer Bedürfnisse – tun können. Lernen Kinder doch hauptsächlich dadurch, wie wir mit uns selbst und unserem Leben umgehen.
Sollten also heute Sie den König im Dreikönigskuchen ergattern, geniessen Sie Ihre Krone und was Sie Ihnen allenfalls bietet. Halten Sie es aus, wenn ihr goldiger Dreijähriger zu Tode betrübt ist. Und verkneifen Sie es sich, ihm das ersehnte royale Stück heimlich in sein Kuchenstück zu stecken. Seinen Frust auszuhalten, bringt ihm so viel mehr als eine Krone. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen Dreikönigstag!
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