Krieg in der UkraineWie Biden zum Widersacher Putins wurde
Joe Biden nannte Wladimir Putin einen «Killer». Nun ist er zu dessen grossem Gegenspieler geworden – aus Überzeugung, aber wider Willen.
«Too litte, too late»: Diesen Vorwurf muss sich Joe Biden am häufigsten anhören. Zu wenig und zu spät habe er etwas unternommen, um Russlands Präsidenten Wladimir Putin vom Angriffskrieg auf die Ukraine abzuhalten, kritisieren Republikaner zu Hause, Nato-Verbündete in Osteuropa und Ukrainer (lesen Sie, wie die Ukrainer dem Krieg zu entfliehen versuchen).
Es ist ein Vorwurf, den sich Biden ungern gefallen lässt. Er beschreibt sich selbst als harten Hund in Sachen Russland. Als Vizepräsident sei er 2011 Putin im Büro in Moskau gegenübergestanden, ein Zitat von George W. Bush im Ohr. «Ich habe dem Mann in die Augen geschaut. (…) Ich gewann einen Eindruck seiner Seele; ein Mann, der seinem Land und dessen Interessen sehr verpflichtet ist.»
«Herr Ministerpräsident, ich schaue Ihnen in die Augen. Ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben.»
Biden sah etwas anderes im damaligen Ministerpräsidenten. Putin habe «sich als unseres Vertrauens unwürdig erwiesen», schreibt er in seinen Memoiren. Nach einer schwierigen Sitzung zur Stationierung amerikanischer Abwehrraketen in Osteuropa habe er lächelnd zu Putin gesagt: «Herr Ministerpräsident, ich schaue Ihnen in die Augen. Ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben.» (lesen Sie, was warum Putins das Ende der alten Welt eingeläutet hat)
Er schaut entschlossen drein wie Uncle Sam
Dem Kampf gegen die Seelenlosen hat sich Biden verschrieben. Nie tritt der 79-Jährige als kalter Machtpolitiker auf, häufig spricht er über Gefühle, über seine Schicksalsschläge. Stets drückt «Scranton Joe» durch, der warmherzige Durchschnittsamerikaner, geboren in der Kleinstadt in Pennsylvania, nun in die Rolle des Anführers der demokratischen Welt gedrängt. Im Konflikt mit Russland ist er der, auf dem aller Augen ruhen: Wie reagiert der Präsident der Vereinigten Staaten auf Russlands Aggression? Tag für Tag nach dem gleichen Drehbuch: Am Morgen die fürchterlichen Nachrichten aus der Ukraine, denen hektische Besprechungen in den diversen Zirkeln der mächtigsten Industrienationen folgen – bis Biden ans Rednerpult tritt, in die Kameras starrt wie Uncle Sam und seine Botschaften an Putin durchgibt.
Entweder war es in der Tat «too little, too late», was Biden jeweils ankündigen konnte – oder Putin war derart entschlossen, die Ukraine in seinen Einflussbereich zurückzuholen, dass ihn nichts und niemand davon abhalten konnte). Oder zumindest nicht mehr: Biden hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er Putin, den er offen einen «Killer» nannte, lieber entschiedener entgegengetreten wäre. Schon als Senator hatte er sich mit Osteuropa befasst, in den 1980er-Jahren noch mit der Sowjetunion. Darum schrillten bei dem überzeugten Transatlantiker die Alarmglocken, als Putin 2007 seine Ambitionen klarmachte, die europäische Sicherheitsarchitektur zu verändern. 2011, in Putins Büro, habe Biden ihm klar gesagt, dass die USA Russlands Sicherheit nicht kompromittieren wollten – dass sie aber ebenso wenig bereit seien, zurückzuweichen (lesen Sie, wie Putin den Krieg begründet).
«Toxischer Einflussbereich von Russland»
Als Vizepräsident war Biden für die Ukraine zuständig im Auftrag von Barack Obama. Viele seiner heutigen Vertrauten haben 2014 mit ihm erlebt, wie Russland die Krim annektierte und in der Ostukraine eine Kampfzone eröffnete. Obama wollte aber Russland nicht provozieren und bei den Ukrainern keine falschen Hoffnungen wecken. «Wir werden die 82. Luftlandetruppe nicht entsenden, Joe. Das müssen sie verstehen», zitiert ihn Biden. Er wollte mehr tun, weil er regelmässig mit Polen, Rumänen, Balten und den Verbündeten auf dem Balkan redete: Sie hatten Angst, bald würde Putin auch ihre Grenzen verletzen.
«Wir werden die 82. Luftlandetruppe nicht entsenden, Joe. Das müssen sie verstehen.»
Nun, da diese Angst neue Nahrung erhalten hat, sieht sich Biden wieder mit Überlegungen konfrontiert, wie er sie schon nach dem ersten Ukraine-Krieg festhielt. Besonders die deutsche Kanzlerin Angela Merkel empfand er als zu zaghaft: «Es sah ganz danach aus, als ob die Europäische Union und die Nato die Ukraine als hoffnungslosen Fall aufgeben wollten, das Land wäre damit in den toxischen Einflussbereich von Russland zurückgesogen worden.» (Lesen Sie, warum Deutschland auch diesmal auf die Bremse steht.)
Jetzt muss Biden genau das geschehen lassen. Als Idealist sagt er, die Demokratie werde die Oberhand behalten, unterfüttert durch seine Megafon-Diplomatie: Laufend machte er die Erkenntnisse seiner Geheimdienste publik, um Putin vor der ganzen Welt als Aggressor zu entlarven . Die Taktik wählt Biden auch, weil er bei allem Idealismus Realist genug ist um einzusehen, dass er gar keine stärkeren Mittel zur Verfügung hat. Ein offener Krieg mit Russland steht nicht zur Debatte, zumindest nicht wegen der Ukraine.
Einheit über alles
Pragmatisch kümmert er sich darum, von Kanada über die europäischen Länder und Australien bis nach Japan eine breite Allianz für möglichst harte Sanktionen zu organisieren. Dabei stellt er das Prinzip der Einigkeit voran, weil er weiss, dass Putin darauf aus ist, die EU und die Nato zu schwächen, indem er sie spaltet. Unverständlich ist, warum er trotz seiner Erfahrung bisweilen zu offen redet – etwa als er sagte, im Fall einer kleinen Grenzverletzung in der Ukraine werde die Nato wohl nicht geschlossen reagieren. Aber insgesamt hat er aus dem Afghanistan-Debakel gelernt, dass er sich mit den Alliierten gut koordinieren muss. Die Europäer wollen Russland nicht von Swift ausschliessen? Biden gibt vorerst nach, in der Überzeugung, dass sie bald mitziehen müssen (lesen Sie, wie die Europäer Biden bremsten).
«Wir verstehen einander.»
Biden leidet mit den Ukrainern, doch verschrieben hat er sich jetzt der Sicherheit des restlichen Europa: Er signalisiert Putin unmissverständlich, dass die Nato alle Mitglieder um jeden Preis verteidigen wird. Damit versucht er auch, China zu beweisen, wie einig die westlichen Länder handeln können. Biden versteht China als die grössere Herausforderung als Russland, darauf wollte er sich konzentrieren. Unmittelbar aber ist Putin gefährlicher, der 2011 in seinem Büro in Moskau zurückgelächelt und geantwortet habe: «Wir verstehen einander.»
Alles klar, Amerika? – der USA-Podcast von Tamedia
Den Podcast können Sie auf Spotify, Apple Podcasts oder Google Podcasts abonnieren. Falls Sie eine andere Podcast-App nutzen, suchen Sie einfach nach «Alles klar, Amerika?».
Fehler gefunden?Jetzt melden.