Schwacher PolarwirbelDer Winter könnte nochmals so richtig zurückkommen
Die Temperatur hoch über der Arktis ist stark angestiegen. Das ungewöhnliche Phänomen könnte Nord- und Mitteleuropa Kälte bringen, die andauert.
Der Frühling hat meteorologisch längst begonnen. Und die Vegetation hat wegen des ungewöhnlich milden Februar einen Vorsprung von rund drei Wochen. Es ist dennoch ratsam, Winterjacke und Handschuhe noch nicht definitiv zu verstauen. Die Rückkehr einer längeren Periode kalter Tage in Nord- und Mitteleuropa ist nicht ausgeschlossen.
Der Grund: Es spielt sich derzeit über der Arktis ein ungewöhnliches Wetterphänomen ab. In der Stratosphäre, auf der Etage der Atmosphäre in etwa 30 Kilometer Höhe, ist die Temperatur um mehr als 20 Grad angestiegen. Sonst herrschen Temperaturen um minus 60 Grad und tiefer. Nun erwärmten sich die Luftmassen innerhalb eines Monats so stark, wie wir das auf der Erdoberfläche nur innerhalb von Jahreszeiten erleben. Die Fachleute sprechen kurz von SSW (Sudden Stratospheric Warming), von einer plötzlichen Erwärmung der Stratosphäre.
Das hat jeweils Konsequenzen für den Polarwirbel, der sich jedes Jahr im Herbst von neuem aufbaut, wenn im Winterhalbjahr immer weniger Sonnenlicht die Polarregion erreicht. Er dreht in einer Höhe von rund 20 bis 50 Kilometern in der Stratosphäre im Gegenuhrzeigersinn, angetrieben durch die Temperatur- und Druckdifferenz zwischen dem hohen Norden und den mittleren Breiten, die im Winter am grössten ist. Am Rande des Wirbels können die Luftströmungen eine Geschwindigkeit von bis zu 300 Kilometer pro Stunde erreichen.
Nun hat der Polarwirbel die Herrschaft über dem Nordpol verloren. Er schwächelt und wird durch einen Wirbel über dem Pazifik nach Süden abgedrängt. Die Folge: Das Zentrum des Polarwirbels liegt gegenwärtig über Skandinavien, und die Winde über dem 60. Breitengrad haben die Richtung gewechselt. Das sind alles Symptome der plötzlichen Erwärmung. Und diese könnte noch bis Mitte März andauern, wie amerikanische und europäische Wettermodelle zeigen.
Kaltlufteinbrüche und Regen
Das heisst: Die «Bubble» des Polarwirbels, in der die eiskalte Luft sonst gefangen ist, wird gestört und durchlässig. Die Luft im Wirbel beginnt wie in einem Hochdruckgebiet zu sinken und erwärmt sich dabei. «Wenn sich dieser Prozess bis auf die untersten Schichten der Stratosphäre in 10 Kilometer Höhe auswirkt, kann das Folgen für unser Wetter haben», sagt Daniela Domeisen, die am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich und an der Universität Lausanne forscht.
Die Erwärmung in der Stratosphäre reduziert die Druckdifferenz zwischen dem Norden und den mittleren Breiten. Das hat Auswirkungen auf die Luftmassen des Jetstreams, die das tägliche Wetter in Europa bestimmen. Sie verlieren an Energie, beginnen zu schlingern und fliessen in grösseren Wellen um den Globus. Dabei transportieren sie Polarluft weit in den Süden. «Kaltlufteinbrüche in Nord- und Mitteleuropa und über dem Nordatlantischen Ozean sind möglich und vermehrt Regen und Stürme auf der Iberischen Halbinsel», sagt die ETH-Forscherin.
Winterliche Rückschläge im Frühjahr können natürlich auch ohne eine stratosphärische Erwärmung auftreten. Das Phänomen erhöhe jedoch die Chancen auf eine länger anhaltende Kälteperiode, schreibt zum Beispiel der britische Meteorologe Nick Finnis in einem der vielen Blogs zum Ereignis. «Es besteht ein erhöhtes Risiko eines herben Rückschlags, bevor sich die Frühjahrswärme durchsetzt.»
Die Auswirkungen der plötzlichen stratosphärischen Erwärmung treten in der Regel erst ein bis zwei Wochen nach dem Ereignis ein. Europäische Modelle rechnen im letzten Drittel des März mit ungewöhnlich kalten Tagen in Europa mit Temperaturen deutlich unter null Grad. Solche längerfristigen Prognosen sind allerdings stets mit grosser Unsicherheit behaftet. «Im Moment liegt die Wahrscheinlichkeit bei etwa 50 Prozent», sagt ETH-Forscherin Daniela Domeisen.
El Niño schwächt Polarwirbel
Dieser Winter ist grundsätzlich besonders prädestiniert für das Phänomen in der Stratosphäre. «Der Polarwirbel ist sehr schwach in diesem Winter, was auch zu erwarten war», sagt Daniela Domeisen. Der Grund: El Niño. Das Wetterphänomen, das alle zwei bis sieben Jahre auftritt, verändert die Druckverhältnisse im Pazifik und damit auch das Windmuster. Es war in den letzten Monaten besonders ausgeprägt, erreichte im Dezember seinen Höhepunkt und sollte spätestens im Juni zu Ende sein, wie die Weltwetterorganisation WMO berichtet. Es sei der fünftstärkste je registrierte El Niño gewesen.
Der Einfluss von El Niño erstreckt sich über die gesamte Nordhemisphäre, weil er die Bahn der Luftmassen des Jetstreams beeinflussen kann, die in rund 10 Kilometer Höhe in grossen Wellen um den Globus fliessen und die Hochs und Tiefs auf der Erdoberfläche steuern. Die «neuen» Wellenbahnen wiederum können stärker als sonst auch vertikal auf die Strömungen in der Stratosphäre wirken und den Polarwirbel schwächen. Im El-Niño-Winter 2015/16 brach der Polarwirbel im März zusammen – mit einem Ausbruch kalter Polarluft in unseren Breiten.
Es ist deshalb nicht ganz überraschend, dass unter El-Niño-Einwirkung nach einem Ereignis Mitte Januar nun ein zweites nachfolgt. «Zwei plötzliche stratosphärische Erwärmungen im gleichen Winter gab es bis jetzt erst einige wenige Male in den Beobachtungen, die bis in die 50er-Jahre zurückreichen», sagt ETH-Forscherin Domeisen. Statistisch betrachtet, ereignet sich aber nur alle zwei Jahre eine plötzliche stratosphärische Erwärmung – mehrheitlich im Januar. Allerdings gibt es grosse Schwankungen: In den 1990er-Jahren gab es nur zwei Fälle, in den 2000er-Jahren hingegen neun.
Britische Forscher beobachteten 40 starke stratosphärische Erwärmungen in den letzten 60 Jahren und publizierten die Resultate im «Journal of Geophysical Research». Sie entdeckten, dass die Wahrscheinlichkeit für bitterkalte Wetterereignisse in Nordwesteuropa und Nordasien deutlich steigt, wenn der Polarwirbel zusammenbricht. Solche extremen Kälteereignisse können dann gemäss der Studie bis zu 40 Tage dauern.
Es ist in den letzten Jahren ein Hype um den Polarwirbel entstanden. Wetterdienste versuchen, mit dem Polarwirbel extreme Wetterereignisse zu erklären. Für Energieversorger erhält er eine besondere Bedeutung, weil das arktische Wetterphänomen für langfristige Prognosen eine Rolle spielt. Nur: Die aktuellen Prognosemodelle können die Entwicklung des Polarwirbels nicht über den gesamten Winter zuverlässig abbilden. «Die dreidimensionale Dynamik des Wirbels ist noch zu wenig verstanden», sagt Daniela Domeisen. So lassen sich stratosphärische Erwärmungen generell nur maximal 10 Tage im Voraus vorhersagen, manchmal sind es auch nur 3 bis 5 Tage.
Eine Frostperiode in den nächsten Wochen hätte auf jeden Fall auch Folgen für die Vegetation. «Aprikosen blühen jetzt schon oder sind am Aufblühen, ihre Blüten oder kleinen Früchte werden durch Frost absterben», sagt Regula Gehrig von Meteo Schweiz. Krautige Pflanzen wie Krokusse, Schneeglöckchen oder Huflattich hingegen sind gegen leichten Frost resistent. Laubbäume hätten noch nicht ausgetrieben und leichte Fröste würden ihnen kaum schaden, sagt Gehrig weiter. Wenn es jetzt kühler würde, würde die Vegetationsentwicklung gebremst, was einen positiven Effekt hätte, um Frostschäden zu verhindern. Das ist allerdings in den nächsten Tagen noch nicht wirklich der Fall.
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