Schwächelnder Polarwirbel Gibt es doch noch einen kalten Winter?
Auch wenn es sich derzeit nicht danach anfühlt: Der Winter war bisher zu warm. Doch die Chancen auf Kälte und Schnee sind intakt.
Wer den Winter mag, der kommt derzeit voll auf seine Rechnung. Es ist kalt, wie es sich für diese Jahreszeit gehört, selbst im Mittelland liegt noch Schnee. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen: Der Winter war bisher im Vergleich zum langjährigen Durchschnitt zu warm. Die Temperaturen im Dezember lagen in der Schweiz mehr als 2 Grad über der Norm – trotz des Kälteeinbruchs Anfang des Monats.
Bleibt die Frage: Ist die gegenwärtige Kältephase nur eine weitere relativ kurze Episode dieses Winters? Antworten dafür kann man in den saisonalen Wetterprognosen der Wetterdienste finden. Aber mit grossen Unsicherheiten, meistens liesse sich auch darüber einfach würfeln. Doch in diesem Jahr stehen die Chancen für einen Treffer grundsätzlich besser. Heisst: Die Wahrscheinlichkeit, in der Endabrechnung mindestens auf einen normalen Winter zurückzublicken, ist höher als im letzten Jahr.
Ein Grund dafür ist der Polarwirbel. Dieses Naturphänomen baut sich jedes Jahr im Herbst von neuem auf, wenn im Winterhalbjahr immer weniger Sonnenlicht die Polarregion erreicht. Das starke Luftband dreht sich in einer Höhe von rund 20 bis 50 Kilometern in der sogenannten Stratosphäre im Gegenuhrzeigersinn. Angetrieben durch die Temperatur- und Druckdifferenz zwischen dem hohen Norden und den mittleren Breiten, die im Winter am grössten ist. Am stärksten ist der Polarwirbel jeweils im Januar; im April, wenn die Sonne zurückkehrt, löst er sich wieder auf.
Dieser Gürtel ist im Grunde ein Starkwindband, das am Rande des Wirbels eine Geschwindigkeit von bis zu 300 Kilometer pro Stunde erreichen kann. Die Luft ist wie in einer «Bubble» gefangen, und ihre Temperatur kann tiefer als minus 70 Grad Celsius sinken.
El Niño schwächt den Polarwirbel
Der Wirbel ist jedoch nicht gefeit vor Störungen. In diesem Winter ist er besonders anfällig. «Der Wirbel ist sehr schwach in diesem Winter, was auch zu erwarten war», sagt Daniela Domeisen vom Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich. Der Grund: El Niño. Das Wetterphänomen, das alle zwei bis sieben Jahre auftritt, verändert die Druckverhältnisse im Pazifik und damit auch das Windmuster. Es soll noch bis April andauern, schätzt die Weltwetterorganisation WMO.
Der Einfluss von El Niño erstreckt sich über die gesamte Nordhemisphäre, weil er die Bahn der Luftmassen des Jetstreams beeinflussen kann, die auf rund 10 Kilometer Höhe in grossen Wellen um den Globus fliessen und die Hochs und Tiefs auf der Erdoberfläche steuern. Die «neuen» Wellenbahnen wiederum können stärker als sonst auch vertikal auf die Strömungen in der Stratosphäre wirken und den Polarwirbel schwächen.
Manche Meteorologen sehen denn auch den instabilen Polarwirbel als Ursache der aktuellen Kälte in Zentral- und Nordeuropa sowie in Nordamerika.
ETH-Forscherin Daniela Domeisen ist in der Interpretation etwas vorsichtiger: «Ob das mit der Stratosphäre zusammenhängt, ist eine noch offene Forschungsfrage, aber es ist gut möglich, dass es da eine Auswirkung von oben gab, die uns die aktuell kalten Temperaturen beschert.»
Das Verhalten des Polarwirbels ist in den letzten Jahren zu einem Medienhype geworden, weil er das Wetter in Europa extrem beeinflussen kann. Das muss allerdings nicht immer der Fall sein. Es kann auch einfach das chaotische Wettersystem sein, in dem der Jetstream auf der Erdoberfläche Wetterlagen entwickelt, die Kälte und Schnee bringen. Das ist nicht aussergewöhnlich für diese Jahreszeit.
Besonderes Wetterphänomen
Doch in diesem Jahr könnte der Einfluss des Polarwirbels auf das Winterwetter auf der Nordhalbkugel grösser sein als sonst. Viele Atmosphärenforschende waren sich bereits Ende des vergangenen Jahres einig, dass ein besonderes Wetterphänomen bevorsteht: eine plötzliche starke Erwärmung der Stratosphäre. Die Fachleute sprechen kurz von SSW (sudden stratospheric warming).
In diesem Fall steigt die Temperatur im Polarwirbel innert kürzester Zeit enorm, die drehenden Luftmassen verlangsamen entsprechend stark, sodass sie ihre Richtung wechseln – von West nach Ost auf Ost nach West, also von Gegenuhr- auf Uhrzeigersinn. Der Wirbel wird völlig instabil. Stefan Rahmstorf, bekannter deutscher Klimaforscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), beschreibt es so: «Man kann sich die Kaltluft wie eine Pferdeherde vorstellen, die normalerweise eingezäunt . Wenn der Zaun kaputtgeht, irrt die Herde in der Gegend herum.» In diesem Fall sinkt die Luft im Wirbel wie in einem Hochdruckgebiet und erwärmt sich dabei.
Das hat Folgen für die gesamte Nordhemisphäre. Die Luftmassen des Jetstreams, die das tägliche Wetter in Europa bestimmen, werden abgeschwächt. Er beginnt zu schlingern, fliesst dann in grossen Wellen um den Globus und transportiert dabei die entflohene Polarluft weit in den Süden.
Statistisch betrachtet, ereignet sich alle zwei Jahre eine plötzliche stratosphärische Erwärmung – mehrheitlich im Januar. Allerdings gibt es grosse Schwankungen: In den 1990er-Jahren gab es nur zwei Fälle, in den 2000er-Jahren hingegen neun. 2024 ist auch dank El Niño die Chance grösser für ein weiteres Ereignis als sonst.
Der grosse Coup blieb aus
Daniela Domeisen machte bereits an Weihnachten eine Umfrage unter Experten, wie sie die Situation für eine SSW einschätzen. «Für einige machte es keinen Sinn mehr, darüber abzustimmen, da ja sowieso schon klar sei, dass es Anfang Januar ein SSW geben werde», sagt die ETH-Forscherin. Denn die Wettermodelle zeigten für Anfang Januar deutlich eine schnelle und starke Stratosphärenerwärmung.
Doch wie so oft machte das Naturphänomen den Forschenden einen Strich durch die Rechnung. Zwar stiegen die Temperaturen im Polarwirbel zwischen 30. Dezember und 5. Januar innert weniger Tage um mehr als 30 Grad an, und die Drehung der Luftmassen begann sich deutlich zu verlangsamen. Das zeigen Daten des amerikanischen Wetterdienstes NOAA. Und sehr wahrscheinlich hat das auch einen Einfluss auf das gegenwärtige Wetter in Europa.
Aber der grosse Coup blieb dennoch aus. Denn der Polarwirbel wechselte nicht die Drehrichtung. Es war insofern nur eine kleine Stratosphärenerwärmung. Die Atmosphärenforschenden geben jedoch die Hoffnung noch nicht auf. «Es ist gut möglich, dass wir in den nächsten Wochen noch eine starke Stratosphärenerwärmung sehen werden, da nicht viel fehlt im Moment, um die Winde genügend abzuschwächen», sagt ETH-Forscherin Daniela Domeisen.
Das sehen auch NOAA-Forschende so: Die Vorhersagen würden darauf hinweisen, dass der Polarwirbel in den nächsten 10 bis 14 Tagen weiterhin schwach bleiben werde. Es bestehe eine weitere Chance auf eine grössere Erwärmung der Stratosphäre.
Extreme Kälteereignisse
Das wäre für die Atmosphärenforschenden willkommen. Denn mit jedem extremen Ereignis in der Stratosphäre lernen sie hinzu. Wie die Modelle in diesem Jahr wieder gezeigt haben, ist es nach wie vor sehr schwierig, solche Ereignisse vorherzusagen. Die dreidimensionale Dynamik des Wirbels wird noch zu wenig verstanden. Langfristige Wetterprognosen wären aber in der heutigen Zeit wünschenswert, weil damit nicht nur saisonale Wetterentwicklungen besser eingeschätzt werden könnten, sondern auch die Energielage für den Winter.
Britische Forscher beobachteten 40 starke stratosphärische Erwärmungen in den letzten 60 Jahren und publizierten die Resultate im «Journal of Geophysical Research». Sie entdeckten, dass die Wahrscheinlichkeit für bitterkalte Wetterereignisse in Nordwesteuropa und Nordasien deutlich steigt, wenn der Polarwirbel zusammenbricht. Solche extremen Kälteereignisse können dann gemäss der Studie bis zu 40 Tage andauern.
Um auf die Frage am Anfang zurückzukommen: Es ist nach wie vor möglich, dass wir in zwei Monaten auf einen richtigen Winter zurückblicken können. Nimmt man die aktuellen Prognosen der Wetterdienste, sieht es jedoch eher etwas anders aus. So zeigen Modelle, dass sich der Polarwirbel so verschiebt, dass ab zweiter Hälfte Januar eher wieder Westwindwetter einkehren könnte und damit milderes Wetter.
Für all jene, die den kalten Winter bevorzugen, gibt es aber noch einen Hoffnungsschimmer. Im El-Niño-Winter 2015/16 brach der Polarwirbel im März zusammen – mit einem Ausbruch kalter Polarluft in unsere Breiten. Noch ist alles möglich.
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