Flüchtlinge in der SchweizWer arbeiten will, darf das auch – aber wo?
Mit dem Schutzstatus S dürfen ukrainische Geflüchtete hier auch einem Job nachgehen. Eine Chance für Schweizer Betriebe – doch die Betroffenen sollen zuerst ankommen, so der Tenor.
Gegen 8000 Flüchtlinge aus der Ukraine haben bis zum Donnerstagmorgen bereits den Schutzstatus S erhalten – 60 Prozent davon sind Frauen und Mädchen und 40 Prozent Buben und Männer. Für sie entfällt damit ein ordentliches Asylverfahren. Sie dürfen vorerst ein Jahr bleiben, können ihre Familie nachziehen, zur Schule gehen – und auch arbeiten.
Gleichzeitig leiden in der Schweiz viele Branchen seit der Corona-Pandemie unter massivem Personalmangel, wie die neuesten Zahlen des Datenanalysefirma X28 erneut bestätigen. Gefragt sind vor allem Fachkräfte, besonders in Gastronomie- und Hotelbetrieben. Hier ist der Bedarf gegenüber dem Vorjahr um knapp 150 Prozent gestiegen. Sollte auch nur ein Teil der Flüchtlinge sich da betätigen wollen, wäre mancher Wirtin und manchem Hotelier geholfen. Vorpreschen will allerdings niemand – die Flüchtlinge sollen zuerst ankommen, lautet der Tenor.
«Das Bedürfnis nach Arbeitskräften ist in unserer Branche auf jeden Fall vorhanden», sagt Andreas Züllig, Präsident von Hotelleriesuisse. Grundsätzlich sei man immer offen, habe Aus- und Weiterbildungsprogramme, damit man die Menschen rasch in den Arbeitsprozess integrieren könne.
Am Mittwoch hatte sich Bundesrätin Karin Keller-Sutter mit den Sozialpartnern darüber ausgetauscht, wie die Ukraine-Flüchtlinge gut in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
Die Sprache ist die grösste Hürde
Dabei gibt es einige Hürden zu nehmen. Das Hauptproblem ist die Sprache. Zumindest Englisch müssten die Leute können, noch besser Deutsch. Züllig glaubt, diesbezüglich einen Vorteil gegenüber anderen Sektoren zu haben: «Unsere Branche eignet sich am besten für Integration, weil die Sprache je nach Sparte nicht einen so hohen Stellenwert hat».
Der Hotellerieverband ist denn auch nicht untätig geblieben. Für den Moment geht es allerdings nicht um die Rekrutierung von Arbeitskräften, sondern um einen möglichst freundlichen Empfang der Neuankömmlinge, grossenteils Frauen mit Kindern.
Dazu hat Hotelleriesuisse eine Website aufgeschaltet, die Hotelbetreiber über die Möglichkeiten informiert, wie sie Flüchtlingen helfen können. Mehrere Hundert Beherbergungsbetriebe stellten Tausende von Zimmern bereit. Züllig: «Der nächste Schritt wird sein, aber vermutlich erst später, dass man schaut, wie man die Menschen in den Arbeitsprozess integrieren könnte.»
Seit Ausbruch der Pandemie sind in der Gastronomie mehr als 30’000 Stellen verloren gegangen. Der Anteil der gastgewerblichen Betriebe, die Personal suchen, hat derzeit einen neuen Höchststand erreicht.
Auch Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer sieht im Status S eine Chance, insbesondere für Hilfskräfte, die – nebst Fachkräften – in den Restaurationsbetrieben ebenfalls fehlen: «Ich gehe davon aus, dass unter den Flüchtlingen auch Menschen mit Erfahrung im Gastgewerbe sind, schliesslich gibt es in der Ukraine auch Restaurants und Hotels.» Hinter den Kulissen sei die Sprache weniger wichtig als im Service, so Platzer.
Das Gastgewerbe sei es gewohnt, mit ausländischen Arbeitskräften zu arbeiten. «Es geht hauptsächlich darum, ihnen mittelfristig eine Perspektive und etwas Normalität zu bieten. Es hilft vermutlich allen, auch wenn es die Rekrutierungsschwierigkeiten im Gastgewerbe kaum behebt.» Seit Ausbruch der Pandemie sind in der Gastronomie mehr als 30’000 Stellen verloren gegangen. Der Anteil der gastgewerblichen Betriebe, die Personal suchen, hat derzeit einen neuen Höchststand erreicht. Viele Branchenangehörige wanderten in aussichtsreichere Berufsfelder ab.
IT-Branche will Kriegsgewinnler-Eindruck vermeiden
Keine Abwanderung erlitt dagegen die IT-Branche. Hier ist allein die fortschreitende Digitalisierung für den ständig wachsenden Bedarf an Softwareentwicklern, Cybersecurity-Experten und Datenanalystinnen verantwortlich. Die Tatsache, dass in der Ukraine der Techsektor boomt, legt die Hoffnung nahe, dass unter den Geflüchteten auch IT-Spezialisten und -Spezialistinnen sind, die Entlastung schaffen könnten.
Der Branchenverband Swiss ICT äussert sich indes zurückhaltend: «Wir möchten als Branche nicht den Eindruck von Kriegsgewinnlern vermitteln», sagt Präsident Thomas Flatt. Er erachte das aktive Umwerben der Ankömmlinge als nicht opportun. Es sei im Moment wichtig, dass die Menschen zur Ruhe kommen, ein Dach über dem Kopf bekämen und ihre Traumata verarbeiten könnten. Generell seien Fachkräfte in der Branche immer gesucht: «Wir bemühen uns nicht speziell um Ukrainer, sondern um alle. Hier aus der Not eine Tugend zu machen, würde allen Beteiligten helfen», sagt Flatt.
Konkrete Programme zur Integration gibt es noch keine. Der Verband denkt aber darüber nach, zumindest in einer ersten Phase Informationen auf Russisch und Ukrainisch zur Verfügung zu stellen.
Pflege und Transportgewerbe vorerst skeptisch
Andere Branchen wie die Pflege oder das Transportgewerbe, die ebenfalls über Personalmangel klagen, sind skeptisch, ob sie die Flüchtlinge aus der Ukraine integrieren können. Unverzichtbar sind in diesen Berufsgattungen deutsche Sprachkenntnisse und eine gute Ausbildung.
Für bereits ausgebildete Fahrer und Fahrerinnen aus dem EU-Raum gibt es erleichterte Zulassungsbedingungen. Sie gelten aber bislang nicht für Fahrer aus der Ukraine.
«Wer in der Schweiz LKW fahren will, muss eine umfassende Ausbildung absolvieren und eine Theorie- und eine praktische Führerprüfung beim Strassenverkehrsamt ablegen», sagt Gallus Bürgisser, Vizedirektor des Branchenverbands Astag.
Für bereits ausgebildete Fahrer und Fahrerinnen aus dem EU-Raum gelten zwar vereinfachte Zulassungsbedingungen, die Stand heute aber nicht für Fahrer aus der Ukraine zur Anwendung kommen. Bürgisser rechnet indes kaum damit, dass sich unter den Flüchtlingen viele Lastwagenfahrerinnen befinden.
Kantonale Bewilligungen erforderlich
Anders im Pflegebereich. Aber auch hier stellt die Sprache eine Hürde dar. Es sei lebenswichtig, dass das Pflegepersonal mit Patienten kommunizieren könne, sagt Roswitha Koch, Leiterin der Abteilung Pflegeentwicklung und Internationales beim Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). Bislang hat der Verband auch noch keine Informationen, dass Arbeitgebende oder Flüchtlinge sich mit der Thematik auseinandersetzen. Dazu sei es noch zu früh.
Sollten die ukrainischen Geflüchteten dereinst ins Erwerbsleben einsteigen wollen, können sie das zwar sofort tun, erklärt Reto Kormann vom Staatssekretariat für Migration (SEM). Der Papierkrieg wird ihnen dabei aber nicht ganz erspart: Sie benötigen eine kantonale Bewilligung zur Erwerbsaufnahme. Dabei werden die Lohn- und Arbeitsbedingungen kontrolliert. «Das dient aber deren Schutz und schränkt sie nicht ein», betont der SEM-Sprecher.
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