Mamablog: Zusammenreissen? Geht nicht!Wenn Mama hochsensibel ist
Der Alltag mit kleinen Kindern kann für hochsensible Personen besonders erschöpfend sein. Psychotherapeutin Felizitas Ambauen hat Tipps.
«Ich sollte mich mal nicht so anstellen! Andere Mütter schaffen das auch!» – «Mir ist alles zu laut!» – «Das Geschrei tut mir in den Ohren weh. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte das Kind einfach auf stumm schalten.»
Solche Sätze höre ich in der Therapie von vielen Müttern. Und ja, es ist normal, dass manchmal die Ressourcen ausgehen, um sich auf die Bedürfnisse unserer Kinder einzustellen. Dass alles zu viel und zu laut wird. Allerdings bedeuten die Herausforderungen, die Elternsein mit sich bringen, für 15-20 Prozent der Bevölkerung eine noch grössere Hürde. Nämlich für diejenigen, die die Kriterien für eine hochsensible Persönlichkeit (HSP) erfüllen. Heisst, ihr System reagiert heftiger und schneller auf Reize – vor allem bei Müdigkeit und Erschöpfung – und braucht länger, um diese zu verarbeiten.
Was ist Hochsensibilität?
Die Hochsensibilität ist keine erworbene «Schwäche» und ebenso wenig eine Krankheit. Dementsprechend erhält man auch keine Diagnose. Hochsensibilität ist ein Wesenszug. Eine Eigenschaft, die einem bereits in die Wiege gelegt wurde und mit der man leben lernen muss – und kann. Etwas, was nicht immer schlecht ist und oft sogar als sehr bereichernd erlebt wird. Schwierig allerdings wird es, wenn der Reizpegel ausschlägt und der Puffer fehlt. Dann kommt alles aus dem Gleichgewicht.
Mittlerweile ist das Konzept der HSP gut erforscht – hier finden Sie einen interessanten Podcast dazu. Elaine N. Aron, eine Pionierin auf diesem Gebiet, nennt vier Dimensionen:
Gründliche Informationsverarbeitung
Physiologische Übererregbarkeit
Intensives emotionales Erleben
Sensorische Empfindlichkeit
Eine hochsensible Person braucht länger, um Reize zu verarbeiten, spürt sie viel stärker und erlebt dabei Emotionen sowie sensorische Eindrücke heftiger als die meisten Menschen. Wenn das Kind also einen unerklärlichen Ausschlag hat, sucht die HSP-Mutter im Internet sehr gründlich nach allen Informationen, die sie dazu kriegen kann; vorher ruht sie nicht. Sie hat dabei z. B. starkes Herzklopfen, Schweissausbrüche und Kopfweh. Sie kann den Ausschlag nicht als kleine Sache abtun und davon Abstand nehmen, sondern erlebt ihn als emotionale Katastrophe. Und wenn das Kind während ihren Recherchen im Hintergrund laut singt, empfindet sie diesen «Lärm» als schmerzhaft.
Das Gefühl, dass mit einem etwas grundlegend falsch ist, kennen fast alle hochsensiblen Personen.
Oft hören hochsensible Personen von ihrem Umfeld, dass sie Mimosen seien, nicht hart genug für diese Welt oder sogar, dass sie HSP benützten, um geschont zu werden. Ihnen wird also unterstellt, dass sie die Hochsensibilität als Ausrede vorschieben. Die meisten kennen niemanden, der so sensitiv reagiert wie sie selbst oder wenn sie jemanden kennen, wissen sie es oft nicht. Denn als hochsensible Person hat man gelernt, diese Eigenart nicht zu sehr an die grosse Glocke zu hängen, aus Angst, verspottet zu werden. Deshalb fangen viele selbst an, zu glauben, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, gehen ständig über ihre Grenzen und überlasten dadurch ihr System. Das Gefühl, dass mit einem etwas grundlegend falsch ist, kennen fast alle hochsensiblen Personen. Über Jahrzehnte haben sie versucht, sich der Welt anzupassen und sich ihre andere Wahrnehmung so erklärt, dass sie selbst das Problem seien. Das braucht zusätzlich Kraft und brennt aus. Da ist es für viele Mütter eine grosse Erleichterung zu hören, dass mit ihnen alles gut ist und ihr Erleben der Welt sogar einen Namen hat.
Keine Entschuldigung für alles, aber eine Erklärung für vieles
Eine hochsensible Person ist ständig darum bemüht, die Reize in ihrer Umwelt zu minimieren und damit die Welt berechenbarer zu machen. Vor dem Familienalltag war das einfacher, weil man sich gezielter zurückziehen konnte, wenn man von Reizen überflutet wurde. Doch alle Eltern wissen: So einfach ist das nicht mehr, wenn Kinder da sind. Kleine Kinder reduzieren die Berechenbarkeit der Welt massiv. Und je mehr hochsensible Anteile eine Person hat, umso mehr Energie verbraucht sie, diese Reize wieder zu verarbeiten.
In der Praxis fällt es auf, dass bei Neueltern hochsensible Personen deutlich höhere Stressreaktionen und mehr Erschöpfungssymptome aufweisen als nicht hochsensible Personen. Selbst in der Psychotherapie wurde das lange nicht auf systemisch-organischer Ebene betrachtet, sondern auf mangelnde Coping-Mechanismen zurückgeführt – also auf eine Selbstverschuldung der Mutter. Damit wird das Problem komplett verkannt. Natürlich ist es wichtig, gute Strategien im Familienalltag zu entwickeln und mit Stress einen Umgang zu lernen, aber ohne auf die Besonderheiten einer hochsensiblen Person einzugehen, wird man nur ihr Gefühl der Unzulänglichkeit fördern, anstatt sie zu unterstützen.
Weiss man jedoch um das Konzept und die Beschaffenheit der Hochsensibilität, kann man anfangen, seine eigenen Trigger zu erkennen, gezielt Reize zu minimieren und zu kontrollieren. Gleichzeitig kann man Strategien entwickeln, wie man in Balance bleibt und sinnvoll auftankt.
Die Akzeptanz der Hochsensibilität und die Unterstützung der Partner ist eine wichtige Vorbedingung, um gut damit leben zu lernen.
Ein wichtiger Punkt: Man sollte damit aufhören, sich diese «Unart» abtrainieren zu wollen – das ist ein Kampf gegen Windmühlen. Man wird nur lernen, sich zu verstellen und über seine Grenzen zu gehen. Die Akzeptanz der Hochsensibilität und die Unterstützung der Partner ist eine wichtige Vorbedingung, um gut damit leben zu lernen. Dafür braucht es dringend mehr Aufklärung! Denn das Wissen um HSP ist noch nicht im Mainstream angekommen und leider auch nicht in den Psychotherapie-Praxen.
Deshalb möchte ich gerne allen HSP-Müttern sagen: «Du bist anders als der grosse Rest und es ist wichtig, dass Du das selbst anerkennst. Aber Du bist komplett in Ordnung! Wenn Du Dir die Welt so gestaltest, dass die Reize berechenbar sind, ist dieser Wesenszug eine wunderbare Anlage, um die Umgebung bunt und intensiv zu erleben, mit anderen Menschen in innigem Kontakt zu treten und Deine Mutterrolle zu geniessen. Irgendwann wirst Du die Hochsensibilität vielleicht sogar als Bereicherung und Erweiterung Deiner Wahrnehmung wahrnehmen und sie nicht mehr missen wollen.»
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.