Miniatur des AlltagsWenn Klischees aufeinandertreffen
Zur Morgenstund werden Herr und Frau Schweizer ihrem ernsthaften Ruf besonders gut gerecht. Dagegen hilft mitunter etwas Italianità im Strassenverkehr.
Die Schweizer sind nicht als Nation bekannt, die gerne lacht. Im morgentlichen Pendlerverkehr bestätigt sich dieses Klischee immer wieder: Konzentrierte bis finstere Gesichter begegnen einem auf dem Weg zu Bus und Zug. Bloss keinen Augenkontakt zu Fremden. Im öffentlichen Verkehr verdecken zumindest die Masken die ernsten – meist über ein Smartphone gesenkten – Mienen.
Dass diese morgentliche Strenge im Gesicht nicht automatisch Rückschlüsse auf die Menschen dahinter erlaubt, versteht sich von selbst. Vielleicht sind wir einfach ein Volk aus latenten Morgenmuffeln, zu denen übrigens auch ich je nach Tagesform mehr oder weniger stark gehöre.
Umso mehr freue ich mich über Situationen, die den morgentlichen Ernst verfliegen lassen. So wartete ich kürzlich am Zürcher Central auf das Lauf-Signal des Verkehrspolizisten. Eine lange Kolonne Autos schob sich über die Kreuzung. Über das Geräusch der langsam tuckernden Fahrzeuge hörte ich eine sich nähernde, laute Stimme und so etwas wie Musik. Suchend sah ich mich um, zunächst jedoch vergeblich.
Doch bald schon kam des Rätsels Lösung näher, und zwar im Schritttempo wie die Autos vor ihm: Ein roter Fiat Panda aus den 90er-Jahren. Alle Fenster waren heruntergekurbelt, das Radio offenbar weiter aufgedreht, als die Boxen des Autos verkrafteten, denn eine Melodie hätte sich beim besten Willen nicht erkennen lassen – wäre da nicht der Fahrer des alten italienischen Wagens gewesen. Den linken Arm lässig auf dem Fenster abgestützt, die Sonnenbrille auf der Nase sang er aus voller Kehle: «Volare , oh oh, cantare, oh oh oh oh». Der Herr mittleren Alters schien gerade einen grossartigen Morgen zu haben und steckte nicht nur mich mit seiner guten Laune an, auch die Lenker hinter ihm hatten ein breites Grinsen im Gesicht.
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