TV-Kritik: Schweizer «Tatort»Wenn die Gesellschaft junge Frauen einfach hängen lässt
Der Zürcher «Tatort» lässt sich nicht von seinen Lieblingsthemen abbringen, selbst wenn er von der Mafia erzählt.
Wir sehen sie, wie sie uns sieht: wie sie von hoch oben herunterschaut auf den glitzernden Zürichsee und die glitzernde Gesellschaft. Kommissarin Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) steht auf einem grosszügigen Hotelbalkon, während unten auf der Terrasse, auf Höhe unserer Perspektive, gepflegt die Gäste speisen. Dann erst wendet sie sich dem Schrecken zu: dem ermordeten Moderator der fiktionalen Internationalen Entwicklungskonferenz IEK.
An der renommierten Charity-Veranstaltung hatten die Benachteiligten der Erde die edlen Spender nur via Werbefilmchen erreicht – Regisseur Tobias Ineichen liebt solche selbstironischen Winke. Doch nun liegt der Moderator tot in seiner Suite, hingerichtet mit einem Bolzenschussgerät für Tiere; die Zehen eines Fusses wurden ihm abgeschnitten und fehlen. «Aufgepasst, Kontrast!», scheint die Regie immer wieder zu rufen: Geldadel und Grausen, schöne Fassade und hässliche Lebenswirklichkeit sind in Zürich untrennbar.
Besagte Zehen werden per Päckchen beim Organisator der wohltätigen IEK auftauchen, bei Dominic Mercier, einem Hedgefonds-Manager (im Schweizer Film bestens bekannt: Leonardo Nigro). Am nächsten Morgen wird ein Sponsor der IEK im besonnt glänzenden Zürichsee ertränkt und sein Ruderboot mit einem, genau, Bolzenschussgerät durchlöchert. So weit, so mafiös.
Rasch weiss die Staatsanwältin: Merciers Hedgefonds ist nicht zimperlich bei der Entgegennahme von Geldern. Merciers IEK wiederum vergibt Kleinkredite in jenen instabilen Regionen, in denen der Fonds Geschäfte tätigt: ein Win-Win-Win für die zwielichtigen Investoren, den Hedgefonds und das Feigenblatt IEK – und ein schmutziges System, dem mit juristischen Mitteln kaum beizukommen ist.
Daraus hätten die Drehbuchautorinnen Claudia Pütz und Karin Heberlein tatsächlich einen komplexen Mafiakrimi bauen können. Aber die komplizierte Geschichte, die anfangs auf die ’Ndrangheta und einen Boxclub fokussiert, verläuft im Sand, derweil «Seilschaft» lieber auf Motive zurückgreift, an denen sich das Zürcher Team schon früher abgearbeitet hat: auf den Missbrauch von Kindern und die Traumata von Kommissarin Tessa Ott (Carol Schuler).
Die nächste Tote ist denn auch Leiterin eines Kinderheims; Luxusuhren am Handgelenk verweisen auf einen Zusammenhang mit den beiden anderen Morden. Da ist jemand blutdürstig und schwer zeigefingernd unterwegs – und legt der seelenverwandten Ott ostentativ eine Schnitzeljagd aus.
Der Moderator mit den abgeschnittenen Zehen entpuppt sich dabei als eine Art Jimmy Savile, an dem sich das Drehbuch wohl orientiert hat: Posthum flog ja auf, dass der legendäre britische Moderator Savile sich massenhaft vor allem an Mädchen vergriffen hatte. Ott ist von den Missbrauchsfällen getriggert, erlaubt sich Gefühlsausbrüche, geht auf Alleingänge. Kurz: In «Seilschaft» wird arg vieles arg angestrengt ineinander verflochten und ausserdem ungehemmt melodramatisch aufgeladen bis zum bittersüssen Ende. Wieder kein Top-«Tatort» aus Zürich.
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