Vor dem Nato-Gipfel in LitauenWelche Zusagen kann die Nato der Ukraine machen?
Das Nato-Treffen findet fast direkt an der Grenze zu Russland statt. Die litauische Hauptstadt Vilnius gleicht einer Festung. Über allem schwebt die Frage, wie das das westliche Verteidigungsbündnis Kiew unterstützen soll.
Nato-Gipfel sind immer etwas Besonderes. Wenn sich die Vertreter der 31 Mitgliedstaaten am Dienstag und Mittwoch in Vilnius treffen, ist die Aufmerksamkeit aber noch höher als sonst. Zum einen, weil das Treffen mit US-Präsident Joe Biden und den anderen westlichen Staats- und Regierungschefs fast direkt an der Grenze zu Russland und Weissrussland stattfindet: Die Allianz hat daher Kampfjets, Patriot-Luftabwehrsysteme und Spezialkräfte verlegt und die litauische Hauptstadt in eine Festung verwandelt. Zum anderen liegen schwer lösbare Fragen auf dem Tisch. Welche belastbaren Zusagen macht das westliche Verteidigungsbündnis der Ukraine, die sich seit mehr als 500 Tagen gegen den russischen Angriffskrieg wehrt und auf eine Nato-Vollmitgliedschaft drängt? Welche Form einer Sicherheitsgarantie kann gefunden werden, die keine direkte Mitgliedschaft bedeutet?
Zudem müssen die Bündnisvertreter über die weitere Unterstützung mit Waffen entscheiden. Besonders umstritten ist die jüngste Zusage der USA, Kiew Streumunition zu liefern. Solche Raketen oder Bomben, die bei ihrer Explosion Hunderte kleiner Anti-Personen-Sprengkörper ausstossen, sind in vielen Staaten geächtet. Auch die Frage der Lieferung von Kampfjets westlicher Bauart an die Ukraine ist ungeklärt. Nato-intern wird es zudem um die Stärkung der von Moskau bedrohten Ostflanke der Allianz gehen.
Kampagne gegen Kurden
Mindestens ebenso wichtig wird die Rolle sein, die der Nato-Staat Türkei spielt. Gibt Präsident Recep Tayyip Erdogan endlich den Weg frei für die Aufnahme Schwedens in das Militärbündnis? Während der Mitbewerber Finnland der Allianz längst beitreten konnte, blockiert Ankara die Aufnahme Schwedens bis heute. Die Begründung: Angeblich geht Stockholm nicht entschlossen gegen anti-türkische Terrorgruppen vor. Erdogan begründet dies damit, dass in Schweden türkische Staatsbürger – vor allem Kurden – im Exil leben, gegen die Ankaras Justiz ermittelt und die oft politisch aktiv sind.
Der türkische Staatschef erpresst die Nato. Zum einen will er den Mitgliedstaaten seine Definition des «Kampfs gegen den Terror» aufzwingen: Ankara brandmarkt fast jede Art politischer Opposition als «Terror». Gleichzeitig dürfte Erdogan seinen Preis fordern, falls er einlenken sollte. Denn die Türkei will von den USA F-16-Kampfjets. Dies ist in Washington umstritten. Ankara hatte mit dem Kauf eines russischen S-400-Luftabwehrsystems gegen alle Absprachen mit Washington verstossen und war deshalb aus dem F-35-Entwicklungs-Programm geschmissen worden. Jetzt fehlt dem Land die F-35 als moderner Kampfflieger.
Erdogan betreibt seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine Schaukelpolitik, spielt die Nato, Russland und die Ukraine gegeneinander aus.
Für die sofortige Aufnahme Schwedens ist es jetzt zu spät. Aber der als beinharter Verhandler berüchtigte Erdogan, der durch seine jüngste Wiederwahl gestärkt wurde, dürfte auch für ein Ja zu einer baldigen Aufnahme bis zum Schluss taktieren. Er betreibt seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine Schaukelpolitik, spielt die Nato, Russland und die Ukraine gegeneinander aus. So hat er gerade entgegen der Absprache mit dem Kreml fünf ukrainische Kommandanten freigelassen, die von den Russen im Mai 2022 nach der Schlacht um das Stahlwerk von Mariupol gefangen genommen worden waren.
Dank Ankaras Vermittlung wurden die Ukrainer, die dem in Moskau als angeblich «faschistisch» verrufenen Asow-Bataillon angehörten, im September gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht. Die Bedingung des Kreml: Die ukrainischen Befehlshaber sollten bis Kriegsende in der Türkei bleiben. Nun kehren die Männer aber nach Kiew zurück, werden als Kriegshelden gefeiert. Während Präsident Wolodimir Selenski seine Kämpfer vor Kameras umarmte – «wir bringen unsere Helden heim» –, reagierte Wladimir Putins Sprecher verärgert über den «direkten Verstoss» gegen alle Absprachen: «Keiner hat uns darüber informiert.»
Putins Schwäche
Dass Erdogan sich vor dem Nato-Gipfel offenbar auf die ukrainische Seite schlägt, widerspricht eigentlich seiner Politik, mit der er die Interessen sowohl Moskaus als auch Kiews zum eigenen Vorteil berücksichtigt. So hatte er Putins Angriffskrieg verurteilt und der Ukraine Waffen geliefert. Zugleich hat er den Draht zu Putin nie abreissen lassen. Ankara ignoriert das Sanktionsregime gegen den Kreml und hat die Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau vor allem im Energiebereich intensiviert. Ebenso hatte Erdogan das gemeinsam mit der UNO ins Leben gerufene Getreideexportabkommen vermittelt, dabei aber auch Moskaus Interessen gewahrt.
Möglicherweise sieht der türkische Präsident Putins derzeitige Schwäche, die durch den bisherigen Misserfolg im Ukraine-Krieg und den mit Mühe und Not vereitelten Putsch des Wagner-Sölderführers Jewgeni Prigoschin deutlich wurde. Mit einem wirklich eindeutigen Bekenntnis des Nato-Staats Türkei zur westlichen Ukraine-Front ist aber kaum zu rechnen: Wie üblich dürfte Erdogan versuchen, alle gegeneinander auszuspielen.
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