Waffen für Gegenoffensive Die Ukraine erhält geächtete Streumunition
Die USA liefern der Ukraine nach langem Zögern Streumunition. Die Nato-Partner zeigen Verständnis – obwohl sie selbst die Waffe verboten haben.
Streumunition ist eine gefürchtete Waffe. Das Geschoss zerspringt in Dutzende kleinere Sprengkörper, die sich auf einer Fläche von mehr als drei Fussballfeldern verteilen. Unter Beschuss geraten damit nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten – über Generationen. Weil ein beachtlicher Teil von Streumunition nicht sofort explodiert, bleiben ganze Landstriche mit Blindgängern verseucht.
Besonders Kinder zahlen dafür auch Jahrzehnte nach Kriegsende einen hohen Preis. 123 Staaten haben Streumunition deshalb seit 2008 mit der Osloer Konvention geächtet. Zu den ersten Unterzeichnerstaaten gehörte die Schweiz; die Armee hat ihre Lagerbestände seither entsorgt.
Einsatz von Streumunition wird kritisiert
Trotz der internationalen Ächtung hat US-Präsident Joe Biden entschieden, der Ukraine Streumunition für Haubitzen liefern zu lassen. Die Vereinigten Staaten haben die Osloer Konvention nicht unterzeichnet, ebenso wenig wie die Ukraine und Russland. Im laufenden Krieg hätten sowohl die Verteidiger als auch die Angreifer bereits Streumunition eingesetzt, kritisieren Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch.
Die ukrainischen Bestände scheinen allerdings zur Neige zu gehen. Seit längerem verlangt Kiew darum zusätzliche Munition und Ausrüstung. Die Forderungen sind zuletzt dringlicher geworden, weil die laufende Gegenoffensive im Südosten des Landes nur zäh vorankommt, unter anderem, weil russische Streumunition auf die ukrainischen Soldaten niederprasselt. Mithilfe der Granaten aus amerikanischer Lieferung hofft die Ukraine die Gegenseite aus den Schützengräben zu vertreiben.
Die Bestände gehen zur Neige
Biden hat monatelang gezögert, der Ukraine Streumunition zu überlassen. Nun aber gehen die Bestände herkömmlicher Artilleriegranaten in den USA und bei den Nato-Verbündeten zur Neige. Von Streumunition hingegen halten die USA noch gegen 5 Millionen Stück an Lager, sowohl Artilleriegranaten als auch Raketen. Seit dem Koreakrieg in den 1950ern haben sie diese regelmässig eingesetzt. Neue Streumunition beschaffen die Vereinigten Staaten indes ebenfalls nicht mehr.
Obwohl das Land sich nicht durch die Osloer Konvention binden lassen wollte, hat der US-Kongress seit 2017 den Einsatz und die Lieferung stark eingeschränkt: Erlaubt sind sie nur, wenn der Anteil der Blindgänger unter 1 Prozent liegt. Allerdings kann sich der US-Präsident über die entsprechenden Beschlüsse des Kongresses hinwegsetzen, wenn er das zur Wahrung der nationalen Sicherheitsinteressen für nötig befindet.
Pentagon hält Blindgänger-Studie unter Verschluss
Amerikanische Regierungsvertreter versicherten am Donnerstag, sie würden der Ukraine nur Munition mit möglichst tiefer Blindgängerrate abtreten. Die seit 1987 hergestellten Granaten für die Haubitzen zerspringen in 72 Teile. Dank einem verbesserten Zündmechanismus seien davon noch exakt 2,35 Prozent Blindgänger, behauptet das Verteidigungsministerium. Allerdings weigert sich das Pentagon, die Studien zu veröffentlichen. Laut dem Recherchedienst des Kongresses beziffern Hersteller die Fehlerrate auf 3 bis 5 Prozent, Minenräumer hingegen schätzen sie auf 10 bis gegen 30 Prozent.
Die Beschwichtigungen der US-Regierung belegen, dass Biden sich sehr bewusst ist, wie heikel seine Entscheidung ist. Innenpolitisch überraschend stabil ist bis jetzt der Konsens, dass die Ukraine zu unterstützen sei, was sich die USA seit Kriegsausbruch bereits mehr als 40 Milliarden Dollar kosten liessen. Die Kritik nimmt allerdings mit fortlaufender Dauer des Kriegs zu, besonders im Lager der Republikaner. Die Lieferung von Streumunition an die Ukraine könnte nun auch den Rückhalt im Lager der Demokraten schwächen; sie untergräbt nun die Argumentation, die USA unterstützten in dem Konflikt die Guten gegen die Bösen.
Biden wird sich erklären müssen
Auch aussenpolitisch machen sich die Vereinigten Staaten angreifbar, indem sie international geächtete Munition in Umlauf bringen. Die Mehrheit der Nato-Länder etwa ist der Osloer Konvention beigetreten. Entsprechend wird sich Biden erklären müssen, wenn er am Wochenende nach Europa reist, um nächste Woche am Nato-Gipfel in Vilnius teilzunehmen, bei dem es um die Nato-Perspektive der Ukraine geht.
Die deutsche Regierung signalisierte aber bereits am Freitag Verständnis für das amerikanische Vorgehen. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte in Bern nach einem Treffen mit der schweizerischen und der österreichischen Amtskollegin, Viola Amherd und Klaudia Tanner, Deutschland werde selbst keine Streumunition liefern, weil sein Land die Osloer Konvention unterschrieben habe. Regierungssprecher Steffen Hebestreit aber nahm die Amerikaner in Schutz: «Wir sind uns sicher, dass sich unsere US-Freunde die Entscheidung über eine Lieferung entsprechender Munition nicht leicht gemacht haben.»
«Besondere Konstellation»
Teil der Sprachregelung ist, dass die Streumunition von der Ukraine in «einer besonderen Konstellation» verwendet werde: «Die Ukraine setzt eine Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung ein. Es geht um einen Einsatz durch die eigene Regierung zur Befreiung des eigenen Territoriums», sagte Hebestreit. «Wir sollten uns also auch noch mal vergegenwärtigen, dass Russland in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits in grossem Umfang Streumunition eingesetzt hat.»
Kein Zufall dürfte sein, dass das Weisse Haus gleichzeitig Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende wieder anfacht. Ehemalige US-Diplomaten hätten in Moskau Kontakte geknüpft für dereinstige Friedensgespräche, berichtete diese Woche der Sender NBC. Auch CIA-Direktor Bill Burns unterhielt sich unlängst bei einem Besuch in Kiew darüber: Ihm sagten die Ukrainer, Russland werde in Verhandlungen einwilligen, wenn sich ihre Truppen der Halbinsel Krim näherten. Das setze voraus, dass die Gegenoffensive besser vorankomme (lesen Sie hier, wieso die Gegenoffensive stockt) – unter anderem dank amerikanischer Streumunition.
Fehler gefunden?Jetzt melden.