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Meinung

Analyse zur ukrainischen Gegenoffensive
Kiew braucht militärische Erfolge, sonst verliert die Bevölkerung den Glauben  

Das Kriegsende ist in den Schatten einer undefinierbaren, schwer beschreibbaren Zukunft zurückgewichen: Ukrainischer Soldat bei Saporischschja.
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Seit Wochen tröpfeln ernüchternde Nachrichten aus der Ostukraine in den Rest des Landes und gen Westen: Die Dutzende Male angekündigte Frühjahrsoffensive, die zur Sommeroffensive wurde, kommt nicht so recht vom Fleck (lesen Sie hier einen Text zu den Problemen der Offensive). In den vergangenen Wochen wurden noch hier und da kleinere Geländegewinne verkündet, mittlerweile jedoch meldet das Verteidigungsministerium in Kiew nicht einmal mehr das. Die Russen schlagen die ukrainische Offensive an vielen Stellen zurück. Das von der russischen Armee hunderttausendfach verminte und verbarrikadierte Gelände erweist sich als schwer einnehmbar.

Das war erwartbar – und ist doch ein Drama. Klar war, dass die Euphorie des vergangenen Herbstes, als die Ukrainer ihre Gegner mit scheinbarer Leichtigkeit vor sich hertrieben, nicht halten würde. Ohnehin waren auch die militärischen Erfolge 2022 teurer erkauft, als Kiew das je zugegeben hätte. Der Glaube an die Machbarkeit eines Sieges dufte in den ersten Kriegsmonaten keinesfalls gefährdet werden. Diese Euphorie hat lange nachgehallt, sie war wie ein Aufputschmittel in der Bewältigung des kollektiven Leids.

Nun ist der Krieg im zweiten Jahr. Die schier unfassbaren Kosten, die Zerstörung, Vertreibung und Besatzung mit sich bringen, werden erst nach einem wie auch immer gearteten Kriegsende ermessen und aufgebracht werden müssen; dieses Kriegsende ist mittlerweile in den Schatten einer undefinierbaren, schwer beschreibbaren Zukunft zurückgewichen. Zurzeit hängt die Ukraine fast komplett von den Alimenten des Westens ab. Deshalb funktioniert das Land glücklicherweise da, wo es muss, immer noch erstaunlich gut: Gesundheitsversorgung, Bildung, Verwaltung arbeiten.

Die Ersparnisse sind aufgebraucht

Der erste grosse Schub der Binnenvertriebenen hat sich einigermassen eingerichtet und sieht sich mit dem Allernötigsten versorgt. Die Flugabwehr fängt die Mehrheit der russischen Raketen ab; wo sie das nicht tut, verbindet eine allumfassende, gemeinschaftliche Trauer das Land. Noch immer ist der Einsatz der Zivilgesellschaft unbeschreiblich gross und wankt nicht (lesen Sie hier den Text über ein von der ukrainischen Armee befreites Dorf); der Überlebenswille verbindet eine Nation, die sich mit dem Schock des Überfalls zusammengefunden hat.

Die militärischen Erfolge haben viele Todesopfer gefordert: Ukrainische Soldaten tragen den Sarg eines gefallenen Soldaten in Saporischschja. 


Das Drama der Rück- und Niederschläge, das die Ukraine zermürben und eventuell sogar zerstören könnte, liegt daher derzeit weniger im Militärischen als vor allem im Kleinen, im Persönlichen. Die Ersparnisse sind aufgebraucht, jeder Fünfte ist arbeitslos, Familien sind zerrissen, Wohnungen zerstört oder von der Verwandtschaft aus dem Osten belegt. Die Nächte in Luftschutzkellern sind eine ewige Abfolge von Zumutungen, die Tage der stete Versuch, nicht zurückzublicken. Und lieber auch nicht nach vorn.

Die mit Bitterkeit und Fassungslosigkeit verbundene Siegesgewissheit des ersten Jahres weicht mit wachsender Geschwindigkeit der Erkenntnis, dass alle Solidarität des Westens, an der vorerst kein Zweifel angebracht ist, nicht ausreichen wird, um die Ukraine im Inneren zusammenzuhalten – wenn die Niederlagen zunehmen und die Zahl der Toten weitersteigt.

Schon ein grösserer Sieg in den kommenden Wochen würde der Ukraine helfen, die kommenden Monate emotional zu überstehen.

Das weiss auch die Regierung in Kiew, die das Gift der Enttäuschung in winzigen Dosen verabreicht. Das einzig Gute ist: Schon ein grösserer Sieg in den kommenden Wochen würde der Ukraine helfen, die kommenden Monate emotional zu überstehen.