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Warum wir weinen
Unsere Tränen sind eine rätselhafte Flüssigkeit

Sad man crying in living room late at night. Depression concept.
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«Tränen sind die einzige Körperflüssigkeit eines Fremden, die keinen Ekel auslöst. Sie sind nicht nur ein Symptom von Traurigkeit, sondern der soziale Klebstoff, der uns zusammenhält», schreibt der Psychologe Ad Vingerhoets von der niederländischen Tillburg-Universität. Er publiziert seit dreissig Jahren zum Weinen. Emotionales Weinen ist eine urmenschliche Eigenschaft. Kein Tier kann das, weder Krokodil noch Elefant.

Warum tun wir das? Und warum sind Tränen so mächtig?

Wer sich mit dem Weinen beschäftigt, wundert sich schnell, wie wenig dazu wissenschaftlich gesichert ist. Selbst die physiologische Ebene, wie genau der Tränenabtransport funktioniert, ist noch nicht genau verstanden. Und bei der viel komplexeren Frage, wie biologische, psychologische und soziale Variablen beim Weinen zusammenspielen, sind noch viele Antworten offen.

Was man weiss: Der Mensch vergiesst im Laufe seines Lebens an die fünf Millionen Tränen, etwa 80 Liter, eine halbe Badewanne voll. Diese Tränen lassen sich in drei Arten unterteilen, wie ein internationales Forscherteam um die beiden wohl wichtigsten Tränenforschenden, die Psychologin Lauren Bylsma von der Pittsburgh University und ebenjenen Ad Vingerhoets aus den Niederlanden, mehrmals beschrieben hat.

  1. Basale Tränen werden im Grunde permanent produziert, um die Hornhaut vor dem Austrocknen zu bewahren. Sie schmieren, schützen und reinigen das Auge. Ein bis drei Milliliter dieser Tränen sondern die mandelgrossen Tränendrüsen tagtäglich ab, ohne dass wir es merken.

  2. Dann gibt es die Reflextränen: Sie schützen die Augen, wenn Verletzungsgefahr droht, also der Wind stark bläst, ein Insekt ins Auge fliegt oder scharfe Reizstoffe etwa von frisch aufgeschnittenen Zwiebeln in der Luft liegen. Reflextränen springen schlagartig an und spülen Fremdkörper und ätzende Substanzen aus dem Auge. Basale Tränen und Reflextränen lassen sich auch im Tierreich beobachten.

  3. Der Mensch allein weint eine dritte Art von Tränen: emotionale Tränen. Wir vergiessen sie, wenn wir traurig, wütend, überglücklich, tief berührt oder verzweifelt sind. Es ist die faszinierendste und gleichzeitig komplizierteste Art des Tränenverdrückens, für deren Ursprung und Sinn es zahlreiche Ideen und Hypothesen gibt.

Physiologisch ist das, was wir Weinen nennen, wohl quasi ein Überlaufen des ständigen Befeuchtungsprozesses der Augen. Die Tränendrüsen sitzen unter den Oberlidern im äusseren Augenwinkel. Durch den Lidschlag, der sich drei-bis sechsmal pro Minute übers Auge schiebt, wird die Flüssigkeit wie von einem Scheibenwischer über die Hornhaut verteilt.

Im inneren Augenwinkel unten nehmen die ableitenden Tränenwege die «verbrauchte» Flüssigkeit auf. Von der Augenoberfläche wird sie in den unteren Nasengang abgeleitet.

Dieses Gleichgewicht wird beim Weinen weggespült: Von einem auf den anderen Moment produzieren die Tränendrüsen so viel Flüssigkeit, dass sie nicht mehr komplett über die Tränenwege abtransportiert werden kann – die Augen quellen über. Dass beim Weinen auch die Nase läuft, hat den einfachen Grund, dass ein Teil der Tränenflüssigkeit auch in die Nasengänge gelangt und nach unten abläuft.

Wie der Tränenabfluss ganz konkret funktioniert, darüber gibt es verschiedene Theorien, aber wenig gesicherte Erkenntnisse. Fest steht, dass ein kleiner Muskel, der sogenannte Horner-Muskel, für den Abtransport über die Tränenkanälchen wichtig ist. Ob es zusätzlich eine Art Pumpsystem zwischen Tränenkanälchen und Tränensack gibt, ist unklar. Manche Forscher glauben, dass allein der Druck des Lidschlusses die Flüssigkeit antreibt. Andere halten Faktoren wie Atmung, Schwerkraft und Verdunstung für entscheidend.

Die ableitenden Tränenwege sind von Schwellkörpergewebe umgeben, das anschwellen und die abfliessenden Wege zusätzlich versperren kann. Dieses Schwellkörpergewebe kann man zum Beispiel durch abschwellende Augentropfen beruhigen. Gegen tränende Augen helfen diese, indem sie sozusagen den Abfluss frei machen und die Augen nicht mehr überlaufen.

Die Tränen schwemmen vielleicht Hormone aus dem Körper

Bis ins 16. Jahrhundert glaubten die Menschen, dass Tränen direkt aus dem Gehirn kämen und Gefühle nach aussen ableiteten. Heute wissen wir: Alle drei Tränenarten scheinen dem gleichen physiologischen Ablauf zu unterliegen. Zwischen vier und acht Minuten braucht eine Träne durchschnittlich für die Passage vom Auge durch die Nase.

Ob die Tränen sich chemisch unterscheiden, ist unklar. Alle drei Tränenarten bestehen vor allem aus Wasser sowie aus Salz und Enzymen. Aber die Konzentrationen dieser Stoffe unterscheiden sich womöglich, zumindest wollen Forschende um den Biochemiker William Frey das in den 1980er-Jahren herausgefunden haben.

In emotionalen Tränen massen die Wissenschaftler damals etwa einen höheren Prolaktin-Anteil, was die These nahelegte, dass beim Weinen bestimmte Stoffe wie das Stresshormon Prolaktin aus dem Körper ausgeschwemmt werden. Damit könnte das Weinen an einer Art Heilungsprozess beteiligt sein. Doch andere Forscher versuchten die Ergebnisse von Freys Team zu wiederholen – und scheiterten.

Noch interessanter ist allerdings die Frage, wann und warum der Mensch anfing, emotionale Tränen zu vergiessen.

Rührung nimmt beim Älterwerden zu

Für den einzelnen Menschen ist die Antwort einfach: Babys weinen, weil sie im Vergleich zu den meisten anderen Neugeborenen im Tierreich noch so unglaublich unfertig sind. Sie brauchen Fürsorge, Aufmerksamkeit, Nahrung, Liebe – und sorgen mit ihren Schreien, aus denen nach ein paar Wochen ein Weinen mit Tränen wird, dafür, dass sie all das bekommen.

Mit vier Jahren etwa entwickeln Kinder das erste Mal so etwas wie Mitgefühl. Sie beginnen zu verstehen, dass es neben dem Ich auch die anderen gibt und dass all diese Existenzen, inklusive der eigenen, vergänglich sind. Dass der Mensch als einziges Wesen wirklich begreifen kann, wie tragisch das Leben ist, gilt in der Forschung als entscheidende Grundprämisse für emotionales Weinen. Wir können deshalb unendlich traurig sein, aber auch stark gerührt werden.

Rührung als Reaktion auf die Erkenntnis von Verletzlichkeit entwickelt sich bei den meisten Menschen erst allmählich im Erwachsenenalter. Es ist ein Gefühl, das mit dem Älterwerden bei vielen Menschen zunimmt. Es setzt voraus, so die These von Forschern wie Ad Vingerhoets, dass man zunächst negative Dinge wahrgenommen und erfahren hat – Verletzlichkeit, Widerstand, Mangel, Scheitern –, die sich dann in bestimmten Momenten der schönen Erfahrung versöhnend auflösen.

Die stärkste Form dieses Gefühls wird in der Literatur mit dem Wort «Kama Muta» aus dem Sanskrit beschrieben. Es bedeutet in etwa «von Liebe bewegt». Um dieses Gefühl empfinden zu können, braucht es einiges an Lebenserfahrung.

Das erklärt, warum Menschen überhaupt weinen. Aber wann kommt es dazu? Eine Forschungsgruppe um den Ulmer Sozialpsychologen Michael Barthelmäs hat 2022 fünf Gründe identifiziert, die emotionales Weinen bedingen: Neben den Gefühlszuständen Einsamkeit, Machtlosigkeit, Überforderung und grosse Harmonie definierte das Team auch Medienkonsum als autarken Tränengrund, also das lustvolle freiwillige Weinen etwa durch den Genuss eines rührseligen Kinofilms.

Wie sich das emotionale Weinen des Menschen evolutionär dahin entwickelt hat, dazu gibt es verschiedene Theorien. Diskutiert wird etwa die Idee, dass die Menschen emotionale Tränen als eine Art körperliche Sprache schon vor der eigentlichen wörtlichen Sprache entwickelten.

Die Tränen bekamen demnach im Laufe der menschlichen Evolution also irgendwann eine zusätzliche Bedeutung zu ihrer biologischen Aufgabe. Sie signalisierten Not – und dass jemand Hilfe von anderen Menschen braucht, um diese Not zu lindern. Emotionale Tränen als Sprache beförderten es, dass sich Menschen miteinander verbanden. Sie sind ein Ausdruck des sozialen Gehirns, dass wir über die Jahrmillionen allmählich entwickelten.

Der Vorstellung, dass emotionale Tränen wie eine Art eigene Sprache funktionieren, kann die Forschung auch heute noch viel abgewinnen. Denn Weinen ist ein reziproker Vorgang, er findet also in wechselseitiger Wirkung statt und betrifft neben dem, der weint, immer auch den, der die Tränen wahrnimmt.

Weinen wir mit Absicht?

Viele Studien beschäftigen sich deshalb auch mit der Frage, ob emotionales Weinen absichtsvoll passiert, also ob zum Beispiel die wissenschaftlich gut belegte aggressionshemmende Wirkung von Tränen beim Gegenüber auch ein Grund dafür sein kann, weshalb wir überhaupt weinen. Entlastet man sich selbst, indem man weint? Oder möchte man damit die Fürsorge anderer gewinnen? Bis heute ist diese Frage unbeantwortet.

Verschiedene Experimente etwa mit Bildern von weinenden Menschen, aus denen dann in Kontrollbildern die Tränen digital entfernt wurden, belegen jedenfalls die Wirkung auf andere. Beobachter schätzten die Gesichter mit Tränen eindeutig trauriger ein als die ohne.

Gleichzeitig waren sie bei sichtbaren Tränen eher bereit, den Weinenden zu helfen. Dazu fand man heraus, dass weinende Menschen von ihren Mitmenschen tendenziell als positiv, warmherzig und ehrlich eingeschätzt werden und nicht als schwach oder dumm.

Tränen bleiben ein Geheimnis

Die entscheidende Studie, die den Katharsis-Effekt von ausgiebigem Weinen untersuchte, stammt aus dem Jahr 2008. Mehr als 5000 Teilnehmer wurden damals gefragt, ob es ihnen nach dem letzten langen Weinen besser oder schlechter ging als davor. Überraschenderweise gaben nur 50 Prozent an, dass sie sich besser fühlten. 40 Prozent stellten keine Veränderung fest, und 10 Prozent fühlten sich sogar schlechter.

Allerdings stellten die Autoren einschränkend fest, dass auch hier die Situation, in der geweint wurde, sowie die Reaktion der anderen nicht unerheblich sein dürfte. Wer durch das Ausweinen Mitgefühl erfahren habe, fühle sich womöglich eher dadurch besser als durch das Weinen an sich. Wer hingegen Spott oder Ablehnung erfahren habe, weil er geweint habe, könne sich danach schnell schlechter fühlen. Es ist eben alles andere als einfach, die Wirkung von Tränen in alle Richtungen zu untersuchen.

Eine andere Arbeit aus dem Jahr 2009 postulierte, dass Weinen zu einer Lösung der damit verbundenen Spannung führen könne, weil der Schmerz dadurch unmittelbar spürbar werde. Und auch die Sache mit der erhöhten Prolaktin-Konzentration aus den Experimenten aus den 1980ern gäbe – wenn sie denn stimmt – Hinweise darauf, dass Weinen Hormone ausschüttet, die psychischen Stress lindern.

Fest steht, dass manche Menschen mehr weinen als andere. Eher extrovertierte Menschen scheinen mehr Tränen zu vergiessen als eher introvertierte Menschen. Ebenso Menschen, die sich selbst für empathisch halten – und von anderen auch so eingeschätzt werden.

Dazu spielen kulturelle und soziale Normen eine grosse Rolle. In einer Untersuchung mit Teilnehmenden aus 37 verschiedenen Ländern kam heraus, dass Weinen in Ländern mit starker Meinungsfreiheit und tendenziell mehr Wohlstand ausgeprägter war als in ärmeren Ländern, in denen öffentliche Gefühlsäusserungen kulturell weniger verbreitet waren.

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern

Der grösste und gleichzeitig am besten belegte Unterschied beim Weinen besteht zwischen den Geschlechtern. Während Jungen und Mädchen bis zum elften Lebensjahr in etwa gleich oft und auch gleich lange Tränen verdrücken, weinen erwachsene Frauen etwa viermal so oft wie Männer (5,3- statt 1,3-mal im Monat) und mit sechs statt drei Minuten im Schnitt auch doppelt so lange.

Die Tränen fliessen bei Frauen ausserdem bereits bei nichtigeren Anlässen. Ob hinter diesen deutlichen Unterschieden neurologische Vorgänge, Hormone oder soziale und kulturelle Prozesse stecken oder ob all das zusammenspielt, ist bisher unklar.

Womöglich hemmt Testosteron den Tränenfluss, während Prolaktin das Weinen befördert. Dafür spricht etwa, dass Schwangere, die vermehrt Prolaktin ausschütten, auch mehr weinen. Gleichzeitig wurden bei Frauen mit dauerhaft erhöhten Prolaktin-Werten keine vermehrten Tränen festgestellt.

Kulturell werden Männertränen noch immer deutlich weniger akzeptiert als Frauentränen, weshalb sie womöglich auch stärker unterdrückt werden. Viele Jungs lernen das schon in der Kindheit, auch wenn es da noch nicht klappt.

Aus Studien mit Psychotherapeuten und -therapeutinnen weiss man, dass es in dieser Berufsgruppe kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Weinen gibt, was darauf hinweist, wie gross der Einfluss der Umgebung und der gelebten Kultur sein kann.