Papablog: Weinende MännerWisst ihr noch, als Papa damals weinte?!
Je älter unser Autor wird, umso näher baut er sich ans Wasser. Leider leben wir aber noch immer in einer Gesellschaft, in der man sich darüber wundert, wenn Männer weinen.
Als ich meine praktische Fahrprüfung nicht beim ersten Mal bestanden habe. Als ich betrogen wurde. Als ich das erste Ultraschallbild meiner grossen Tochter gesehen habe. Als ich meine Familie aus einem Urlaub nach Hause gefahren habe und alle von Krankheit oder Migräne geplagt vor sich hinvegetierten, während ich versucht habe, uns völlig unbeschadet nach Hause zu fahren. Als ich für mein erstes Buch «Prinzessinnenjungs» meine eigenen Gewalterfahrungen schriftlich anpacken musste. Als ich meinen winzigen Sohn über Wochen in eine sogenannte Tübinger Schiene zwängen musste, damit sein Hüftschiefstand behoben wird. Als meine Lebenskomplizin einen so schlimmen Radunfall hatte, dass ich zunächst davon ausgehen musste, sie würde sehr lange oder vielleicht sogar nie mehr mit mir Hand in Hand durch den Frühling spazieren und sich nach Kirschblüten strecken.
Nicht oft, aber ich weine
Ich weine nicht oft, aber ich weine. Wenn ich traurig bin. Wenn ich Angst habe oder mir Sorgen mache. Wenn ich Schmerzen habe. Wenn ich mitleide. Manchmal weine ich sogar aus Freude. Je älter ich werde, umso näher baue ich mich ans Wasser. Umso bereitwilliger setze ich mein Herz in diese See. Vermutlich hat das etwas mit der anschwellenden Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit zu tun. Und mit Vaterschaft. Mit meinen Kindern. Mit Liebe. Mittlerweile bin ich von diesen Gefühlen so durchdrungen, dass es ausreicht, wenn mich ihre Darstellung benetzt, damit ich sie selbst empfinde. In Geschichten, Bildern oder Filmen. Sie müssen nicht besonders exquisit sein. Man braucht auf der Klaviatur meiner Gefühle gar nicht «On the Nature of Daylight» von Max Richter zum Film «Arrival» spielen, in dem sich eine Wissenschaftlerin dafür entscheidet, ihre Tochter zu bekommen, obwohl sie weiss, dass diese als junge Frau sterben wird.
Es funktioniert auch mit Blockbuster-Movies wie «Armageddon», die voller Plot Holes, Machismo und schmierlappiger Dialoge sind – wenn Bruce Willis kurz vor seinem Tod das Leben seiner Filmtochter in Flashbacks durchlebt, stehe ich in den Wassern des Lebens mit meiner eigenen Tochter.
Verteufelte Männertränen
Es gibt einen einfachen Grund dafür, warum ich Ihnen das alles erzähle: Meine kleine Tochter hat mich gefragt. Sie wollte wissen, ob ich überhaupt weine. Ich sagte ja und konnte sogar einen Moment benennen, in dem sie mich hat weinen sehen. Weil ihre Mutter im Krankenhaus lag und ich nicht mehr weiter wusste. Ich weine also und meine Kleine fragt mich trotzdem, ob ich es überhaupt tue. Ich baue mich nah und näher ans Wasser und für meine Tochter ist es nur eine kleine Pfütze. Ich sage meinen Kindern, dass Weinen wirklich okay ist, und reguliere in den meisten Fällen wie selbstverständlich meine Emotionen, weil Männertränen sehr oft einfach nicht okay sind. Oder Grossereignisse, von denen man noch lange sprechen wird: Wisst ihr noch damals, als Vater weinte?!
Denn so aufgeklärt wir uns geben und für wie modern wir uns auch halten: Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der man sich darüber wundert, warum ukrainische und russische Männer nicht an der Front sterben wollen. In der sie alle Emotionen zu kontrollieren haben, die ihnen irgendwie als Schwäche ausgelegt werden könnten. In der «Kevin nicht weint, als er die fünfte Klasse nicht geschafft hat, als seine Mutter ihn verliess, als seine Freundin starb und sich bei seinem Suizid fragte, wer wohl weinen würde», wie es die Dichterin Helly Shah formuliert.
Das ist sicher kein Grund, um den Kampf für emanzipierte, freie Jungen und Männer aufzugeben. Aber ich glaube, es ist ein Grund zum Weinen.
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