Steuersenkung im Kanton ZürichEin neuer Kampfbegriff treibt die Zürcher Politik um
Die bürgerliche Mehrheit im Kantonsrat will die «warme Progression» ausgleichen. SVP-Finanzdirektor Ernst Stocker findet dies fahrlässig, die Linke reagiert kampflustig.
- Der Begriff «warme Progression» sorgte im Kantonsrat für Verwirrung und Diskussionen.
- FDP, SVP und GLP haben eine Steuersenkung durchgesetzt.
- Gemäss Regierungsrat betragen die Steuerausfälle eine halbe Milliarde Franken für Kanton und Gemeinden.
- Die Linke kündigte bereits ein Referendum an.
«Ich habe echt viel Zeit investiert, um zu verstehen, was Sie genau wollen», sagte Donato Scognamiglio (EVP) am Montag im Kantonsrat. Er ist immerhin ein anerkannter Immobilienspezialist und als Mitglied der Kommission für Wirtschaft und Abgaben auch ein Zahlenmensch. Da er das Vorhaben «nur knapp» verstanden habe, gehe er davon aus, dass es die breite Bevölkerung nicht verstehen werde. «No way», sagte Scognamiglio.
Scognamiglio richtete sich an die Motionäre von FDP, SVP und GLP, die in ihrem Vorstoss einen neuen Begriff lanciert hatten: warme Progression. Er ist angelehnt an den bekannteren Ausdruck «kalte Progression». Diese tritt ein, wenn Steuerpflichtige mehr Einkommenssteuern zahlen müssen, obwohl ihr höherer Lohn von der Inflation weggefressen wird.
Damit dieser Effekt nicht eintritt, passt der Regierungsrat alle zwei Jahre die Steuertarife an. Dies tut er anhand des Landesindex für Konsumentenpreise (LIK). Letztmals hat die Regierung Anfang 2024 eine Teuerung von 3,3 Prozent steuerlich ausgeglichen.
Löhne statt Teuerung als Grundlage
Nun soll gemäss den Motionären statt der kalten die «warme Progression» ausgeglichen werden. Grundlage wäre nicht mehr der LIK, sondern die Entwicklung der Nominallöhne, wie Motionär Mario Senn (FDP) erklärte. Nicht mehr die Teuerung wäre ausschlaggebend, sondern die Lohnerhöhungen selbst.
«Die Löhne steigen nicht nur wegen der Teuerung, sondern vor allem aufgrund von Produktivitätsgewinnen», sagte Senn. In der Folge gerieten mehr Menschen in höhere Stufen der Steuerprogression, und diese werde nicht ausgeglichen. Das sei die «reale» oder eben «warme Progression», sagte er.
Opfer seien der Mittelstand und die unteren Einkommensklassen, die «geschröpft» würden. Die hohen Gehälter seien weniger betroffen, sagte Senn. Denn der Steuertarif steige nicht mehr, wenn die höchste Progressionsstufe erreicht sei. Das ist bei Jahreseinkommen von mehr als 263’300 Franken für Alleinstehende der Fall.
SP bringt Potemkin ins Spiel
Der neue Begriff sorgte für Kalauer im Rat: Finanzdirektor Ernst Stocker (SVP) nannte den Vorstoss ironisch «kreativ», Scognamiglio tituliert ihn als «exotisch» und rätselte darüber, was wohl die «lauwarme Progression» sein könnte.
Stefan Feldmann (SP) bediente sich in der russischen Geschichte und führte das Potemkinsche Dorf an, also die kunstvolle Vorspiegelung falscher Tatsachen. «Die Motion nimmt ein Problem auf, das es gar nicht gibt», sagte er. Der Begriff «warme Progression» stamme von der «neoliberalen Denkfabrik Avenir Suisse», sagte Feldmann. Diese wolle schlicht das Prinzip aushebeln, dass mehr Steuern zahlt, wer mehr verdient. Wer die Steuern senken wolle, solle dies über den Steuerfuss machen, riet Scognamiglio.
Hohe Steuerausfälle
Während Sprecher von SVP und GLP von steuerlicher Gerechtigkeit und höherer Kaufkraft für den Mittelstand sprachen, replizierten Linke, dass die Bürgerlichen den Staat ausbluten wollten und bei Steuersenkungen stets die höheren Einkommen übermässig profitierten. Der Vorschlag sei «pseudosozial» und werde das nächste Sparprogramm nach sich ziehen, wenn er durchkomme.
Finanzdirektor Stocker wehrte sich aufgrund der erwarteten Steuerausfälle gegen die Steuergesetzänderung. «Sie gehen mit den Steuereinnahmen leichtfertiger um als mein Enkel mit seinem Sackgeld», klagte er und nannte das Vorgehen «fahrlässig».
Der Regierungsrat schrieb in seiner Stellungnahme zum Vorstoss von jährlichen Steuerausfällen von knapp 500 Millionen Franken für den Kanton und die Gemeinden, wenn man die Entwicklung der Nominallöhne zwischen 2012 und 2024 als Referenz nehme. Zum Vergleich: Der Ausgleich der kalten Progression für dieselbe Periode kostet 200 Millionen.
Referendum angekündigt
Obwohl die Mitte mit der Linken stimmte, obsiegte die Rechte zusammen mit den Grünliberalen. Die Motion wurde mit 100:76 Stimmen überwiesen. Nun muss der Regierungsrat innert zweier Jahre und gegen seinen Willen eine konkrete Gesetzesänderung ausarbeiten. Diese kommt dann wieder ins Parlament.
Die Linke kündigte vorsorglich ein Referendum an. «Diesen Abstimmungskampf werden wir geniessen», sagte Judith Stofer (AL) siegesgewiss.
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