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Umstrittener Friedensnobelpreisträger
Albert Schweitzer: Lichtgestalt oder finsterer Kolonialist?

Albert Schweitzer, schon älter, steht mit weissem Helm und Fliege vor einem Gebäude in tropischer Umgebung.
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In Kürze:
  • Berner Historiker arbeiten Albert Schweitzers Wirken im Urwaldspital Lambarene kritisch auf.
  • Sein Spitalprojekt wird als kolonialistisch und autoritär beschrieben.
  • Schweitzers Führungsstil galt als autokratisch und strikt hierarchisch.
  • Die Unabhängigkeit Afrikas lehnte er als verfrüht ab.

Höher kann ein Mensch kaum gelobt werden. Das US-Magazin «Life» sah in ihm niemand Geringeres als «the greatest man in the world»; 1953 konnte er für seine Wohltaten als Mediziner im afrikanischen Urwald den Friedensnobelpreis entgegennehmen; und allein in Deutschland sind mehr als 200 Schulen und 700 Strassen nach ihm benannt.

Im Januar dieses Jahres jährte sich sein Geburtstag zum 150. Mal, die «Süddeutsche Zeitung» meinte bei dieser Gelegenheit, Albert Schweitzer, weltberühmt geworden als «Urwalddoktor», tauge heute noch «als Vorbild».

Erstmals untersuchte Akten

Tatsächlich? Ein Historikerteam der Uni Bern sieht das einiges kritischer.

Hubert Steinke, Hines Mabika und Tizian Zumthurm wollen mit ihrem eben veröffentlichten Buch «Albert Schweitzers Lambarene: Ein globales Spital im kolonialen Afrika» am Sockel des Säulenheiligen rütteln. Sie stützen sich auf Recherchen in bislang weitgehend unerschlossenen Archiven sowie auf Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Patientenlisten. Das Fazit der nach Bekunden der Autoren «ersten kritischen Untersuchung» zu Schweitzers Wirken in Afrika: Zwar habe dieser mit seinem Spitalprojekt eine Pionierleistung in der medizinischen Versorgung Zentralafrikas erbracht, doch seine Taten und sein Denken seien «tief in koloniale Denkmuster verstrickt» geblieben.

Ärzte in chirurgischer Kleidung führen eine Operation durch.

In Schriften und Reden bezeichnete der weisse Retter die Afrikanerinnen und Afrikaner gern als «Primitive». Er verglich sie mit Kindern, die von ihren «grossen Brüdern», damit meinte er Europäer wie ihn selbst, erzogen werden müssten. Für Steinke entspricht dies der damals typischen europäischen Überheblichkeit: «Diese Sichtweise sollte die kolonialen Machtstrukturen rechtfertigen», sagt der Direktor des Berner Instituts für Medizingeschichte.

Schweitzer gründete das Urwaldspital Lambarene 1913 im zentralafrikanischen Land Gabun, damals französische Kolonie. Er erweiterte den Bau später und arbeitete dort als Mediziner bis zu seinem Tod im Jahr 1965. Schweitzer, geboren 1875 in Kaysersberg im Elsass, war Deutscher – indessen auch in der Schweiz aussergewöhnlich populär und verehrt. Der Grossteil der Spendengelder, mit denen der Urwalddoktor sein Spital finanzierte, floss aus der Schweiz nach Gabun, rund 60 Prozent des medizinischen Personals stammten zudem aus der Schweiz.

Das Gegenteil von nachhaltiger Entwicklungshilfe

Nicht nur Schweitzers kolonialherrschaftliche Weltanschauung befremdet heute. Auch sein Führungsstil im Tropenspital erscheint problematisch, das zeigt die Arbeit der Berner Forscher. Strikte Hierarchien, kaum Raum für abweichende Meinungen, umfassende Kontrolle: Der als Held der Humanität gefeierte Mann war im eigenen Krankenhaus ein autokratischer Patriarch und regierte mit eiserner Hand.

Das mag damals weniger irritiert haben als heute, schwerer als diese offensichtlichen Führungsdefizite wiege allerdings der Umstand, «dass das Spital dauerhaft von der Hilfe aus Europa abhängig blieb und Schweitzer nicht afrikanisches Personal medizinisch ausbildete», sagt Steinke. Schweitzer betrieb also das Gegenteil von dem, was man heute unter nachhaltiger Entwicklungshilfe versteht.

Albert Schweitzer mit dem Wildschwein ’Isabelle’ im Spital in Lambarene, Gabun, umgeben von dichter Vegetation, 1960-1965.

Im Buschspital herrschte Apartheid, eine strikte Trennung von Schwarzen und Weissen, Personal und Patienten. Was heute als Diskriminierung erscheint, war jedoch zur damaligen Zeit die Regel – und entsprach offenbar auch einem Bedürfnis der lokalen Patientenschaft, die obendrein eine Einquartierung nach Stammeszugehörigkeit forderte.

Gut war die medizinische Versorgung in Schweitzers Krankenhaus. Zwar sei Lambarene bewusst mit einfacher Technik und Ausstattung betrieben worden, sagt Steinke, doch zeigten die untersuchten Quellen, dass zeitgenössische Beobachter die Behandlungsqualität und die medikamentöse Versorgung meist als einwandfrei beurteilt hätten. In den Akten gebe es keine Hinweise auf fragwürdige oder gefährliche Praktiken.

Die Marotte mit dem Tropenhelm

Spätestens in den 1950er- und 1960er-Jahren jedoch wirkten Schweitzers Auftritt und Arbeitsweise nicht mehr angemessen. Dass der Friedensnobelpreisträger trotzig am Tragen des Tropenhelms festhielt – an einer Kopfbedeckung, die eng mit der Kolonialherrschaft assoziiert wurde –, galt schon vielen zeitgenössischen Beobachtern als Indiz dafür, dass er die neue Realität des sich von den Kolonialmächten befreienden Afrika verpasst hatte.

Gleichzeitig wandelte sich der einstige Idealist und Visionär in einen Mann, der resigniert hatte: Er war zur Überzeugung gelangt, dass die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaft nicht zum Guten verlaufen, sondern der Kontinent vom Weltkapitalismus korrumpiert würde. Die Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten lehnte Albert Schweitzer gar als verfrüht ab.

Albert Schweitzer posiert in einem Anzug mit Fliege auf einem Deck, während Fotografen ihn fotografieren.

Erweist sich der als Säulenheiliger des Humanismus gefeierte Albert Schweitzer spät als finsterer Kolonialist?

Postkoloniale Fragestellungen liegen gross im Trend und sind nun auch am medizinhistorischen Institut der Universität Bern angekommen. Im Gegensatz zu vielen aktivistisch motivierten historischen Untersuchungen aus postkolonialer Perspektive folgt das Autorenteam um Steinke den Geboten der Wissenschaftlichkeit und präsentiert ein differenziertes Bild der Jahrhundertfigur Albert Schweitzer als eines Mannes der Widersprüche. «Insgesamt war Schweitzer in den frühen Jahren eher weniger kolonial und später eher kolonialer als das durchschnittliche Europa. Er repräsentiert damit die allgemeine Überheblichkeit recht gut», sagt Steinke.

Oder um es in Anlehnung an Schweitzer zu sagen: Auch die grossen Brüder sind Kinder ihrer Zeit.

Hines Mabika, Hubert Steinke, Tizian Zumthurm: Schweitzers Lambarene. Ein globales Spital im kolonialen Afrika. Göttingen: Wallstein, 2024. – 343 Seiten, 110 Abbildungen. Das Buch ist im Open Access frei zugänglich: https://doi.org/10.46500/83535672