Politexperte im Wahlinterview«Wir erleben einen Rechtsruck – mit einem entscheidenden Unterschied zu 2015»
Die progressive Stimmung in der Schweiz ist verflogen. Michael Hermann sagt, warum die SVP trotz blasser Führung punktet und warum die SP im Wahlvolk besser ankommt als die Grünen.
Herr Hermann, sehr früh an diesem Wahlsonntag machte eine Hochrechnung die Runde, wonach die SVP die magische 30-Prozent-Grenze durchbrechen könnte. Was dachten Sie, als Sie davon hörten?
Ich war verwundert – erinnerte mich aber daran, dass dies schon bei früheren kantonalen Wahlen vorgekommen war. Hochrechnungen haben ein Problem, wenn der Stadt-Land-Graben grösser wird und ländliche Gegenden noch konservativer wählen als vor vier Jahren. Es ist deshalb ein Risiko, so früh am Tag Hochrechnungen zu veröffentlichen. Auch, weil damit gleich der Ton für die Berichterstattung gesetzt wird. Um wahre Erkenntnisse zu gewinnen, muss man manchmal etwas Geduld haben im Leben.
Unbestritten ist: Die SVP legt stark zu und kratzt an ihrem Allzeithoch von 2015. Welche Faktoren haben ihr diesen Triumph ermöglicht?
Die Atmosphäre im Land ist eine komplett andere als vor vier Jahren, als die SVP massiv verlor. Damals hatten wir eine progressive Grundstimmung, die grossen Krisen – Pandemie, Ukraine-Krieg – lagen noch vor uns. Auch wirtschaftlich ging es uns gut. Das Land war offen für Veränderungen. Die Migrationsthematik, die seit den 90er-Jahren jede Wahl geprägt hatte, machte einen Moment Pause. Doch solch progressive Aufbruchmomente sind flüchtig. Nun dominiert wieder die Furcht vor Veränderung, vor dem Fremden, vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
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Die heutige Parteiführung um Marco Chiesa ist wesentlich blasser als jene um Toni Brunner, die die SVP zum letzten grossen Wahlsieg geführt hatte. Ist die SVP eine andere Partei als damals?
Seit Christoph Blocher die Partei neu positioniert hat, gilt: Die SVP lebt von den Themen und nicht von den Personen. Das Migrationsthema verhilft rechten Parteien in ganz Europa zu Wahlsiegen, nun also auch bei uns. Tatsächlich war aber noch nie so unklar, wer die SVP eigentlich führt. Es ist nicht Marco Chiesa, aber wir sehen auch kein Revival von Christoph Blocher. Seine Herzensthemen – die Neutralität, der Kampf gegen Brüssel – spielten in diesem Wahlkampf praktisch keine Rolle.
Was ist mit der Kulturkampf-Debatte, die die SVP Anfang Jahr anzettelte – Stichwort: Gender-Gaga? Spielte sie eine Rolle?
Sie ist nicht so wichtig wie die Migrationsdebatte, aber sie spielte eine Rolle. Denn auf der gesellschaftspolitischen Ebene ist etwas ins Rutschen geraten. Vor vier Jahren waren Gleichstellungsthemen auch in der Mitte der Gesellschaft hoch im Kurs. Nun hat sich der Diskurs verlagert – man schimpft nun gegen Gender und Wokeness. Die Rechte brauchte einfach einen Moment, um dieses Potenzial zu entdecken.
Die Grünen sind die grossen Verlierer. Kann sich die Partei ihren Bundesratssitz nun abschminken?
Ja. Man muss realistischerweise sagen: Sie hätten auch bei einem höheren Wähleranteil kaum eine realistische Chance gehabt. Denn das Kartell der Bundesratspartei hat kein Interesse daran, einen neuen Player aufzunehmen.
Unlängst bezeichneten Sie die SP und die Grünen als «kommunizierende Röhren»: Je mehr die eine Partei gewinne, desto mehr verliere die andere. Doch nun dürfte die Linke auch unter dem Strich verlieren. Warum?
Es ist ja nicht so, als wären diese Röhren hermetisch abgeschlossen. Vor vier Jahren gewannen die Grünen massiv mehr, als die SP verlor. Richtig ist die Aussage: Es kommt kaum vor, dass beide gewinnen oder beide verlieren. Vor vier Jahren wuchs das linke Lager für Schweizer Verhältnisse stark. Befragungen zeigten, dass sich viele Wählerinnen und Wähler nicht bewusst waren, wie stark links die Grünen politisieren. Solche Personen wandern nun wieder ab.
Was hat die SP unter dem Duo Wermuth/Meyer besser gemacht als die Grünen?
Der SP hilft, dass auf der linken Seite die sozialen Themen wieder mehr Gewicht haben als das Klima. Stichwort Krankenkassenprämien und Kaufkraft. Sie gilt als Macherpartei. Insgesamt ist zu beobachten, dass derzeit vor allem Parteien gefragt sind, die den Wählerinnen und Wählern Schutz versprechen. Die SP sagt: Wir schützen euch vor hohen Kosten! Und die SVP: Wir schützen euch vor Migration und anderem Unbill auf der Welt. Die Verliererparteien FDP, GLP und Grüne nehmen die Leute hingegen in die Pflicht: indem sie mehr Leistung verlangen (FDP), Verzicht predigen (Grüne) oder wollen, dass sich die Schweiz den Veränderungen auf der Welt stellt (GLP). Das macht sie in diesen Krisenzeiten unpopulär.
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Mit Spannung wurde erwartet, wer die drittstärkste Kraft im Land wird. Auch am Sonntagabend liefern sich Mitte und FDP noch ein enges Rennen …
… genau so, wie es unsere Umfragen vorhergesagt haben. Manche fanden es ja merkwürdig, wie intensiv über diesen Zweikampf diskutiert wurde. Aber man muss sich das einmal vergegenwärtigen: Vor vier Jahren hätte doch niemand gedacht, dass die ehemalige CVP der FDP so gefährlich werden würde! Das ist historisch.
Alles nur wegen der neuen Marke «Die Mitte»?
Die neue Marke macht die Partei für Menschen wählbar, für die die Schwelle mit dem «C» zu gross gewesen wäre. Das ist ein Punkt. Der zweite ist, dass die Partei dank der Fusion mit der BDP in neuen Regionen Fuss fassen konnte. Und der dritte ist, dass die Mitte-Partei stark einen bürgerlich-sozialen Kurs fährt. Die Paarung «bürgerlich und sozial» ist, was vor vier Jahren «liberal und grün» war. Sie nimmt die Stimmung im Land sehr gut auf.
«Das heisst, dass realpolitisch mehr rechte Anliegen durchkommen werden.»
Die GLP wurde lange als politisches Wunderkind gehandelt, verliert jetzt aber ebenfalls. Weshalb?
Die Grünliberalen konnten den Schwung von den letzten eidgenössischen Wahlen etwas länger mitnehmen als die Grünen. Vielleicht, weil sie noch jünger und unverbrauchter sind. Vielleicht auch, weil sie punkto Wähleranteil etwas weniger über ihren Verhältnissen gelebt haben als die Grünen. Doch mit ihrem stark progressiven Kurs haben sie im aktuellen politischen Klima ein Problem. Wählerinnen und Wähler, die sich weder links noch rechts verorten, wenden sich eher der Mitte-Partei mit ihren bürgerlich-sozialen Rezepten zu.
Wie verändern sich die Kräfteverhältnisse im Parlament? Nimmt die – von vielen Menschen als Problem wahrgenommene – Polarisierung weiter zu?
Nicht unbedingt, zumal der linke Pol nicht gestärkt wurde. Wir erleben einen Rechtsruck. Dieser ist zwar nicht ganz so stark wie 2015, es gibt aber einen entscheidenenden Unterschied: Damals war der Ständerat eher links und somit ein Korrektiv. Nun ist auch der Ständerat vergleichsweise rechts. Das heisst, dass realpolitisch mehr rechte Anliegen durchkommen werden. Mit Ausnahme der Sozial- und Wirtschaftspolitik – dort gibt auch Die Mitte Gegensteuer. Der Zeitgeist ist konservativer, aber nicht wirtschaftsliberaler.
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