80 Länder betroffenStärkste Vogelgrippewelle der Geschichte erfasst die Erde
Selbst Eisbären und Delfine verenden: Das Virus erreicht die entlegensten Gegenden. Das kann zu einer Katastrophe führen. Die Schweiz müsse wachsam bleiben, sagt die Tierseuchen-Expertin Barbara Wieland.
Die Vogelgrippe hat die entlegensten Gegenden der Erde erreicht. Im Norden Alaskas starb Ende vergangenen Jahres ein Eisbär an den Folgen der Seuche. Mehrere seiner Organe waren mit dem Erreger infiziert. «Oft befällt das Virus auch das Gehirn», erklärt der Virologe Timm Harder vom Friedrich-Loeffler-Institut in Greifswald. «Die Tiere verlieren dadurch ihren Orientierungssinn, haben Gleichgewichtsstörungen, Krampfanfälle und verenden in einer Art Dämmerzustand.»
Das seit der Epidemie im Herbst 2021 in Europa dominante, hochpathogene aviäre Influenzavirus des Subtyps H5N1 mit der sperrigen Zuordnung «Klade 2.3.4.4b» hat nicht nur unzählige Geflügelfarmen und Seevogelkolonien heimgesucht, sondern auch viele Säugetiere in freier Wildbahn dahingerafft, darunter Delfine, Tiger, Braunbären, Otter oder Seehunde. Inzwischen ist das für einige Tierarten tödliche Vogelgrippevirus fast rund um den Globus in mehr als 80 Ländern aufgetreten. Und nun nähert es sich auf dramatische Art und Weise auch noch der Antarktis.
Ist das Virus erst einmal irgendwo eingeschleppt worden, wütet es unter empfänglichen Vogelarten meist gnadenlos. Allein in Chile und Peru verendeten innerhalb weniger Monate mindestens eine halbe Million Seevögel und rund 20’000 Seelöwen an dem hoch brisanten Erreger. In den USA mussten Ende 2022 in den Nutzgeflügelbetrieben insgesamt über 50 Millionen Hühner und Truthähne gekeult werden, um die verheerende Ausbreitung der Seuche in den Griff zu bekommen. «Was wir jetzt sehen, hat geradezu historische Ausmasse», erklärt Harder.
Geimpfte Enten auch auf unseren Tellern
Eine Pandemie mit diesem bereits global in Vogelpopulationen grassierenden H5N1-Erreger hätte verheerende Folgen für die öffentliche Gesundheit, für die Ernährungssicherheit sowie auch für die Biodiversität. Um die potenziellen Risiken zu reduzieren, fordert die Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH) neben den bisherigen Bekämpfungsmassnahmen wie einer Keulung des Geflügels in betroffenen Betrieben sowie strengen Biosicherheitsauflagen, in Zukunft auch eine Impfung bei Nutztieren in Betracht zu ziehen.
Seit Oktober 2023 bekommen in Frankreich bereits im Rahmen einer nationalen Ausnahmebewilligung 64 Millionen Enten in Betrieben einen nur dort zugelassenen Impfstoff. Die landesweite Kampagne wird auf insgesamt rund 105 Millionen Euro veranschlagt und soll die Tiere von den Pyrenäen bis in die Bretagne und an den Rhein vor dem riskanten Vogelgrippevirus schützen.
«Ein Jahr zuvor haben die Ausbrüche Schäden von über einer Milliarde Euro angerichtet, weshalb sich die Kosten für die Impfkampagne rechtfertigen lassen», sagt Barbara Wieland vom Institut für Virologie und Immunologie (IVI). Die obligatorische Impfung der Mastenten in Frankreich hat jedoch wirtschaftliche Konsequenzen für den gesamten EU-Raum, weil die USA, Kanada, Japan und Thailand seither keine Enten und kein Entenfleisch mehr von hier importieren. Gemäss dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) wird dagegen das Fleisch von geimpften Mastenten aus Frankreich weiterhin wie üblich als Lebensmittel in die Schweiz eingeführt.
Doch lässt sich das Fleisch nach einer Vogelgrippeimpfung überhaupt noch essen? «Vom Wirkstoff ist nach kurzer Zeit nichts mehr übrig, und ein Poulet könnte ohne Bedenken konsumiert werden», betont Harder, der selbst an Vogelgrippe-Impfstoffen für Gänse forscht. Viele Leute würden gar nicht wissen, dass fast jede Legehenne in ihrem Leben mehrmals geimpft werde. Zum Beispiel gegen bestimmte Darmbakterien wie etwa E.coli. Eine solche Impfung sei für das Tierwohl und auch im Kampf gegen Resistenzbildungen viel besser als ein gehäufter Einsatz von Antibiotika.
Geschützte Flamingos im Zoo
Auch in der Schweiz wurde ein Vogelgrippe-Impfstoff am Institut für Virologie und Immunologie (IVI) in Mittelhäusern entwickelt, der seit August 2023 an 317 Vögeln von insgesamt 24 verschiedenen Arten im Zoo Basel und im Tierpark Dählhölzli in Bern im Rahmen eines Forschungsprogramms getestet wird. «Vom Pelikan über den Brillenpinguin bis hin zum Flamingo, der Schneeeule oder dem Seidenhuhn bekamen sie alle eine Spritze ins Muskelgewebe und fünf Wochen später nochmals eine Booster-Impfung», sagt Wieland. Geimpft sind die Tiere vor einer Infektion geschützt und können während einer Risikolage besser artgerecht gehalten werden.
Unter den in der Schweiz geimpften Zoovögeln sind viele, die in Zuchtprogrammen zur Arterhaltung sind und damit besonders schutzwürdig. Derzeit gibt es in der Schweiz zwar keinen H5N1-Fall mehr. «Die Situation ist aber dynamisch und kann sich jederzeit ändern», sagt Wieland. Besonders das Hausgeflügel könne sehr schnell zu einer Virenschleuder werden, sodass man sofort eingreifen müsse. Man müsse wachsam bleiben, um eine Weiterverbreitung der Seuche zu verhindern.
Besonders brisant ist, dass sich der gefährliche Krankheitserreger momentan mehr und mehr der antarktischen Eiswüste nähert, wo unter anderem Kaiserpinguine Brutkolonien mit Zehntausenden von Individuen haben. «Wenn es dort ausbricht, könnte es zu einem katastrophalen Massensterben kommen und unvorhergesehene Folgen für die gesamte Polarregion haben», betont Harder. Denn die flugunfähigen Seevögel sind eine wichtige Komponente im Gleichgewicht des marinen Ökosystems.
Vor rund zwei Wochen wurde das Vogelgrippevirus H5N1 erstmals auf den Falklandinseln bei Eselspinguinen nachgewiesen, die entweder in subantarktischen oder antarktischen Gebieten brüten. Auch bei Kadavern von Albatrossen oder etwa dem antarktischen Eissturmvogel stellten Forschende des British Antarctic Survey das Pathogen fest. Auf der benachbarten Insel Südgeorgien, die ebenfalls rund 1400 Kilometer von der Antarktis entfernt ist und riesige Seevogelkolonien beherbergt, fanden die Experten das Virus bei verschiedenen Robbenarten. Untersucht wird derzeit ein verdächtiger Fund von einer Raubmöwe, die als erstes Tier auf dem Festland des riesigen Kontinents befallen sein könnte.
In Europa tritt das Virus in vielen Küstenländern wie etwa Deutschland, Dänemark oder Grossbritannien längst nicht mehr nur saisonal aufgrund der Zugvögel auf, sondern über das ganze Jahr hindurch. Es verbreite sich unter für das Virus günstigen Umständen auch über die Artgrenzen hinweg. Denn infizierte Wildvögel sind für Raubtiere eine leichte Beute, und sie stecken sich beim Fressen an. Aus diesem Grund sind beispielsweise Füchse, aber auch viele andere Fleischfresser wie etwa Robben gefährdet.
An der Nord- und Ostseeküste ist das hochpathogene Vogelgrippevirus H5N1 inzwischen keine Seltenheit mehr, sodass es praktisch jede Woche in Vogelkadavern zu finden ist. Das grosse Problem ist, dass eine fortdauernde Infektion mit diesem Virus auch dort die Biodiversität gefährden kann. Zum Beispiel starben in begrenzten Brutgebieten in Deutschland letztes und vorletztes Jahr bei den Basstölpeln auf Helgoland oder Seeschwalben in Schleswig-Holstein mehr als 50 Prozent der dortigen Populationen.
Seit 2005 gingen generell durch die Vogelgrippe, zu der auch andere Influenza-A-Virenstämme wie etwa H5N6 gehören, weltweit über 500 Millionen Stück Geflügel verloren. Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor kurzem vermeldete, haben sich von Anfang Januar 2003 bis Ende Dezember 2023 insgesamt 882 Menschen allein mit dem Vogelgrippevirus H5N1 angesteckt, von denen 461 Erkrankte die Infektion nicht überlebten.
Wie gravierend und schnell der Verlauf der Krankheit sein kann, zeigt auch der Fall einer jungen Frau aus einem Dorf in Kambodscha, die im November 2023 Kontakt zu infizierten Hühnern in einem Hinterhof hatte und sich mit dem dortigen H5N1-Virusstamm Klade 2.3.2.1c ansteckte. Nachdem sie vier Tage unter Husten, Fieber und Kurzatmigkeit litt, wurde sie in ein öffentliches Spital gebracht, wo sie kurz darauf starb.
«Der derzeit weltweit zirkulierende Virusstamm Klade 2.3.4.4b hat allerdings nur eine sehr geringe Neigung, auch Menschen zu infizieren», betont Harder. Dennoch führe dieser erstmals auch bei Säugetieren zu einem alarmierenden Anstieg an Todesfällen. Besorgniserregend sei auch, dass er sich in immer neue geografische Regionen ausbreite.
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